Melodie des Südens
achtete darauf, ob er die Stiche spürte, als sie seine Wunden nähte, aber er zuckte nicht zusammen und stöhnte auch nicht. Es war wohl besser so, dachte sie, solange sie mit den Wunden beschäftigt war. Bisswunden überall, von den Ohren bis zu den Fußknöcheln, ganze Muskelstücke komplett herausgerissen. Und es hieß, er sei im Bayou gewesen, das bedeutete, er würde Fieber bekommen, denn die Wunden hatten sich in dem sumpfigen Wasser mit Sicherheit infiziert.
Auf die kleineren Stichwunden setzte sie Stoffstücke mit heißem Wasser, damit sie bluteten und sich so selbst reinigten. Die Risse und Bisswunden säuberte sie mit Zaubernuss und achtete sorgfältig darauf, allen Schmutz zu entfernen. Es waren scheußliche Wunden, aber sie waren nicht sehr tief.
Aus einem kleinen Behälter in ihrer Tasche träufelte sie Öl auf einen schwarzen Seidenfaden und machte sich mit ihrer Nadel an die Arbeit. Mit ruhiger Hand nähte sie zunächst das Ohr an, das fast abgerissen war. »War er allein?«, fragte sie.
»Nein, er ist mit seinem Bruder weggelaufen, mit John Man.«
Marianne fragte nicht weiter. Wenn sie John Man einfingen, würde sie es früh genug erfahren.
Evette und ihre Helferinnen arbeiteten unterdessen weiter. Die Leute brauchten etwas zu essen, Brot musste gebacken, Mais und Bohnen gekocht werden, ob nun ein verletzter Junge auf dem Tisch lag oder nicht. Der Duft von Pökelfleisch und Bohnen, die bald hinaus auf die Felder gefahren würden, mischte sich mit dem Geruch von Blut und Zaubernuss.
Während Pearl heiße Kompressen auf die kleineren Wunden drückte, nähte Marianne weiter. Nach einer Stunde reichte Evette ihrer Herrin eine Blechtasse mit heißem, stark gesüßtem Kaffee, den Marianne schnell austrank. Dann wischte sie sich kurz den Schweiß von der Stirn und nahm die Nadel wieder in die Hand.
Noch eine Naht, dann war sie fertig. Auf die Stichwunden legte sie einen Verband aus zerquetschtem Zinnkraut, die anderen Wunden verband sie mit Schwarzwurz.
Marianne tauchte die Arme bis hinauf zu den Ellbogen in einen Eimer mit warmem Wasser, den Evette für sie bereitgestellt hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihre Segeltuchschürze vergessen hatte. Hannah, ihre Zofe, würde den Kopf schütteln: Wieder ein Rock und eine Bluse, die kaum noch zu retten waren.
Peter schrie auf, immer noch halb bewusstlos, und riss an dem Verband an seinem Hals. Marianne nahm seine Hände, um ihn zu beruhigen. Immerhin hatte er noch ein wenig Kraft. Aber ob er diese Verletzungen überleben konnte, wusste nur Gott allein.
Mit Pearls Hilfe wickelte sie ihn in ein Leintuch ein, sodass er eher einer Mumie als einem Menschen glich. Dann sprach sie ein stummes Gebet, während die Männer ihn vorsichtig auf eine Trage hoben, um ihn in seine Hütte zu bringen. »Bleib bei ihm, Pearl, ich komme bald nach.«
Marianne war vollkommen erschöpft, als sie ihr Zimmer erreichte, wo sie sich auszog und in ihren Morgenrock schlüpfte. Freddie wollte den blutigen Kleiderhaufen untersuchen, aber sie zog ihn auf ihren Schoß. Am liebsten hätte sie geweint vor Erschöpfung und aus Mitleid für den Jungen, aber sie hatte längst begriffen, dass Tränen in dieser Welt wenig nützten. Sie vergrub ihre Nase in Freddies weichem Fell und ließ sich von ihm trösten, bis er sich aus ihrer Umarmung herauswand.
Während sie auf das Bad wartete, das Hannah ihr richtete, saß sie an ihrem Schreibtisch aus Rosenholz, auf den Hannah einen Strauß frischer Gardenien gestellt hatte. Freddie legte sich neben sie, die winzige Nase auf ihrem Fuß, und sie schlug das medizinische Tagebuch der Plantage auf. Indem sie die Einzelheiten der Behandlung schriftlich niederlegte, brachte sie auch ein wenig Distanz zwischen ihre Gefühle und den bedauernswerten Jungen. Dann schlug sie ihr ledergebundenes privates Tagebuch auf und tunkte ihre Feder wieder in die Tinte.
Kurz bevor sie sechzehn geworden war, hatte Marianne in New York die Schule beendet. Damals hatten sie alle Onkel Toms Hütte gelesen, und natürlich hatte auch Marianne den Roman unter heißen Tränen verschlungen. Grauenhaft! Eine Geschichte, die einem das Herz zerreißen musste. Aber so war die Sklaverei in Wirklichkeit nicht! Sie kannte niemanden, der sich so verhielt wie dieser Legree, niemanden, der so verzweifelt war wie Eliza. Und doch war New York voll gewesen mit Männer und Frauen, die an den Straßenecken mit überzeugter Rede und scharfer Stimme gegen die Sklaverei wetterten, die
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