Melville
den anderen
und laufe orientierungslos durch die nächtliche Londoner Innenstadt.
Ich beachte die Menschen nicht, rempele hin und wieder jemanden an,
aber reagiere auf ihre teils groben Kommentare nicht.
Die
Straßen werden immer belebter, die Stimmen lauter. Ich stecke die
Hände in meine Taschen, ziehe die Schultern nach oben und gehe
einfach weiter. Bis mich ein kleiner steinerner Absatz bremst. Ein
Absatz zu einem Zaun, der ein winziges Stück Park abgrenzt. Mitten
zwischen Menschenmassen und fotografierenden Touristen, erkenne ich
endlich, wo ich bin.
„Leicester
Square...“, flüstere ich nur leise. Und es ist die Bestimmung, die
mich hergeführt hat, an den Ort, an dem mir Benedict das Jagen
beigebracht hat. Der Ort, an dem wir gemeinsam waren, bevor ich ihn
das erste Mal mit meinem Verhalten enttäuscht habe. Bevor er erkannt
hat, was für ein Wesen mir innewohnt und er seine Wahl sicher das
erste Mal bereut hat. Ich hebe den Kopf und sehe in den wolkenlosen
Nachthimmel, doch keine Sterne sind zu sehen. Die Straßenbeleuchtung
ist zu hell.
„Schöner
Platz, nicht wahr?”.
Ich
drehe überrascht den Kopf zur Seite. Ein junger Mann, rote Haare,
keine zwanzig Jahre alt, lehnt mit dem Rücken an dem Zaun. Stand er
schon dort, bevor ich ankam? Ich weiß es nicht. Ich antworte ihm
nicht, sondern blicke wieder nach oben. Er drückt sich vom Zaun ab,
stellt sich neben mich und blickt, wie ich, nach oben in den Himmel.
Kann er mich nicht in Frieden lassen?
„In
meiner Heimatstadt kann man die Sterne sehen, wenn man nach oben
blickt. Doch London ist kein Ort für Träumer, die Hilfe in der
Unendlichkeit suchen.”.
„Können
Sie mich bitte einfach in Ruhe lassen?”. Ist alles was ich
antworte.
„Wenn
du Ruhe wolltest, hättest du das Hotelzimmer nicht verlassen
sollen.”. Ich senke langsam meinen Blick wieder, drehe mich zu ihm
und betrachte ihn ausgiebiger. Seine Kleidung ist komplett in schwarz
gehalten und gepflegt, seine Haut ganz blass, aber viele
Sommersprossen zieren sein Gesicht. Als er sich meiner ungeteilten
Aufmerksamkeit bewusst wird, lächelt er breit und ich kann seine
weißen Zähne sehen, während er weiter gen Himmel sieht.
„Wer
sind Sie? Und warum beobachten Sie mich?“, frage ich.
„Sagen
wir, ich bin ein Mann mit einem Anliegen und ich möchte nur mit
Ihnen ungestört reden. Spielen Sie Golf?”.
„Nein.”.
„Kein
Problem, ich bringe es Ihnen bei. Die Grundlagen sind schnell
gelernt.”. Ich habe keine Lust weiter mit ihm zu reden, drehe mich
um und gehe meinen Weg. Soll sich der Spinner jemand anderen suchen,
um Golf zu spielen.
„Wir
sehen uns.“, ruft er hinter mir her, ich versuche ihn zu
ignorieren.
Ich
bin in dieser Stadt nicht geboren, kenne die Wege und Straßen fast
ausschließlich als Autofahrer. Ich gehe, unbehelligt von Anrufen
oder Verpflichtungen, von Stadtteil zu Stadtteil. Die Autos werden
weniger, die Passanten erst extravaganter, dann immer seltener. Bis
ich dann teils allein auf dem Bürgersteig bin. Ich habe aber nicht
wirklich Augen für sie, sondern blicke nur leer vor mich auf den
unbekannten Weg. Stunde um Stunde, bis ich an Randbezirke komme, die
kaum noch belebt sind. Die Häuser sind dunkel und meine Schritte
hallen laut.
Erst
als ich den ersten Zeitungsausträger sehe, wird mir bewusst, dass
ich nicht mehr lange wach sein kann. Hier werde ich auf die Schnelle
kein Hotel vorfinden. Mein Blick wandelt sich von neugierig in
suchend und dann schließlich in leichte Panik. Und das erste Mal
komme ich in die Verlegenheit, aktiv nach einem Tageslicht-sicheren
Unterschlupf Ausschau halten zu müssen. Alle Kellertüren sind
verschlossen, keine verlassenen Gebäude, keine Rückzugsmöglichkeit.
Als
ich mit schnellen Schritten eine Straße überqueren will, fährt
plötzlich ein Wagen vor und hält direkt vor mir. Das hintere
Fenster fährt herunter. Er schon wieder? Hat er mich die ganze Zeit
verfolgt?
„Brauchen
Sie eine Mitfahrgelegenheit?”.
„Nein
danke, ich komme zurecht.”.
„Sicher,
Melville? Ich meine, nicht dass du wegen so einer Lappalie im
Sonnenlicht endest.”. Und während er redet, fühle ich die ersten
Vorboten der Schläfrigkeit. Nur noch einige Minuten. Woher weiß er
das alles? Ist er einer von uns? Das muss er wohl.
„Was
haben Sie mit mir vor? Was passiert wenn ich einsteige?”.
„Keine
Angst, ich werde dir schon nichts tun. Außer dir vielleicht was
Obszönes ins Gesicht zu malen. Aber besser als sterben,
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