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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasar Kemal
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hätten mich dann die Wölfe zerrissen.«
    Süleyman erhob sich seufzend. »Also so stehen die Dinge mit dir, Ince Memed ... Ich kann dir nur sagen, hör auf meine Worte und geh nicht über den hennafarbenen Hügel! Da braucht dich nur einer zu sehen und es dem ziegenbärtigen Abdi zu sagen, und schon holen sie dich.«
    »Allah behüte mich davor!« rief Memed aus.
    Am nächsten Morgen erwachte er sehr früh, sprang auf und trat vor das Haus. Es war in der ersten Morgendämmerung. Dann trat er in das Lager Süleymans, der im tiefen Schlaf schnarchte. Er stieß ihn an.
    Der Alte kam nur langsam zu sich. »Was ist? Ach, du bist's, Ince Memed. Was gibt's denn?« murmelte er schlaftrunken.
    »Ja, ich bin es.« Memed war stolz, der erste zu sein. »Es ist Zeit. Ich muß die Ziegen forttreiben.«
    Süleyman stand sofort auf, schaute nach seiner Frau aus. Die war längst auf, die Kuh zu melken. Er rief nach draußen: »Mach schnell den Proviant für Ince Memed fertig.«
    Die Frau wusch sich über einem Eimer die Milch von den Händen. »Es genügt erst mal. Ich kann sie am Abend fertig melken.«
    Blitzschnell hatte sie den Beutel mit Memeds Mundvorrat für den Tag fertig. Gleichzeitig stellte sie ihm seine Suppe hin. Im Nu hatte er sie restlos aufgegessen. Ohne eine Minute Zeit zu verlieren, band er sich den Proviantbeutel um, und schon trieb er die Ziegen vor sich her. Er riß sich seine abgetragene Kappe vom Kopf, feuerte sie mit einem »Auf geht's!« hinter den Tieren her und brach in einen Freudenschrei aus:
    »Hurra!«
    Süleyman rief ihm nach: »Glück auf den Weg!«
    Memed schaute wieder und wieder zu ihm zurück, bis er mit der Ziegenherde außer Sichtweite war.
    Süleyman seufzte in sich hinein. Seine Frau war neben ihn getreten. »Was hast du wieder für Kummer, Süleyman?«
    »Frau, sieh nur mal, was der ziegenbärtige Abdi diesem Kind angetan hat! Es könnte einem das Herz brechen, wie es ihm ergangen ist. Ich habe seinen Vater gekannt; ein stiller bescheidener Mann nach seiner eigenen Art ... Und nun muß sein Kind vor Angst und Verzweiflung in die Berge flüchten, mitten unter die Wölfe und Raubvögel. Ist das eine Welt?«
    »Süleyman, du nimmst alles viel zu schwer! Nun iß erst mal deine Suppe.«

3
    Es war Abend geworden. Die Bauern waren alle von den Feldern zurück. Ince Memed kam nicht, auch nicht, als die Dunkelheit hereingebrochen war.
    Zeynep aus dem Nachbarhaus rief zu Memeds Mutter hinüber: »Döne! Döne! Ist Memed immer noch nicht zurückgekommen?«
    »Er ist immer noch nicht da!« kam es jammernd zurück. »Was soll ich jetzt nur machen?«
    Zeynep wiederholte vielleicht zum zehnten Mal, was sie Döne schon vorher geraten hatte: »Nun geh zu Abdi Aga und frag ihn. Es kann doch sein, daß er zu ihm gegangen ist. Frag ihn selbst, gleich, meine Schwester. Ach, Döne, du Ärmste! Was du alles durchmachen mußt!«
    »Ach, womit hab ich das verdient? Memed hält sich nirgends auf, ist er im Dorf, so geht er gleich nach Hause! Bei Abdi Aga bleibt er schon gar nicht - nicht mal eine Sekunde lang! Aber ich will hingehen, vielleicht weiß er ... «
    Es war stockfinster unter einem Himmel ohne Mond, ohne Sterne, als Döne ihren Weg zu Abdi Agas Haus suchte. Sie mußte sich tastend vorwärts bewegen. Aus einem winzigen Fenster schimmerte etwas Licht. Sie näherte sich dem Schimmer mit klopfendem Herzen, schluckte ein-, zweimal. Sie zitterte an Händen und Füßen, biß die Zähne aufeinander. Nur mit Mühe konnte sie Laute hervorbringen. Sie klangen wie ein Röcheln: »Abdi Aga! Abdi Aga! Mein Memed ist noch nicht gekommen! Ist er bei Euch? Abdi Aga! Eure Füße will ich küssen, Abdi Aga! Nur sagt, daß er hier ist! Ich komme nur fragen ...«
    Eine herrische Stimme dröhnte heraus: »Wer ist da? Was willst du, jetzt mitten in der Nacht, Frau?«
    »Abdi Aga, um Allahs willen ... Mein Memed ist noch nicht nach Hause gekommen. Ich wollte nur fragen, ob er vielleicht hier ist ... «
    »Ach, du bist es, Döne? Allah soll dich heimsuchen. Komm herein. Laß hören, was du willst.«
    Zusammengeschrumpft vor Angst und Schüchternheit, trat Döne ein. Abdi Aga saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Hocksofa neben dem Kamin. Er trug ein Samtkäppchen, das ihm auf das linke Ohr gerutscht war. Das hatte er immer auf dem Kopf, unterwegs, in den Bergen oder im Dorf. Damit wollte er zeigen, daß er ein frommer Muslim war. Er trug ein feines, gesticktes Hemd, seine Hände ließen eine Gebetskette aus großem

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