Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
geht zu den Einmachgläsern und reißt eines nach oben. Wieder huschen ein paar Käfer davon, doch diesmal fängt er einen in der gewölbten Hand, einen Käfer mit schimmerndem grünem Rücken und leuchtend rotem Kopf, von dem dornenartige Hörner abstehen. Das Tierchen spreizt die knotigen, stacheligen Beine. Partridge hält die Hand ganz still, bis er spürt, wie die kitzelnden Beine innen über seine Finger krabbeln.
»Tut mir leid«, sagt er. »Wirklich.«
Er trägt den Käfer zu der Sperrholzunterlage, öffnet die Spieluhr seiner Mutter, schubst den Käfer vorsichtig hinein und schließt den Deckel wieder. Ein leises Kratzen dringt aus der Spieluhr. Er wünschte, Arvin Weed wäre hier, das Wunderkind der Akademie. Zu blöd, dass er in den Laborstunden nicht besser aufgepasst hat …
Partridge nimmt sich eine der Ampullen und zieht die Kappe von der Nadel. Die dünne Kanüle glitzert. Mit diesem Experiment wird er natürlich einen Tropfen Serum verschwenden. Aber es ist ja nur einer. Nur ein einziger.
Er dreht die Spieluhr auf den Kopf. Der Käfer huscht über die Holzplatte. Partridge erwischt ihn und hält ihn behutsam fest.
Während die Beinchen auf der Stelle wieseln, ohne voranzukommen, schiebt sich ein spitzer, eingerollter Schwanz unter den Flügeln hervor. Ein Schwanz mit einem schwankenden Stachel am Ende. Der Käfer sieht ihn mit kleinen, runden, schwarzen und ein wenig feuchten Augen an. Doch Partridge konzentriert sich auf die Injektionsnadel – und als er den Kolben der Spritze langsam hinunterdrückt, spürt er einen Stich. Ein feines, brennend heißes Kribbeln jagt durch seinen Daumen und seinen Zeigefinger, die auf dem gepanzerten Rücken des Käfers liegen, und schießt in seine Hand. Vor Schreck stößt Partridge einen Schrei aus, doch er lässt den Käfer nicht entkommen.
So schnell er kann, zielt er mit der Nadel auf den Käfer. Aber als seine Hand vor Schmerz erstarrt, muss er ihn doch loslassen. Der Käfer trippelt über das Sperrholz – ein Tropfen löst sich von der Nadel, ein großer, nasser Tropfen, und landet auf einem der hinteren Beinchen. Das Bein erschlafft, gefangen in der Feuchtigkeit. Trotzdem robbt der Käfer weiter vorwärts.
Mutter Hestra hat Partridges Schrei gehört. Ihre Knöchel donnern gegen die Kellertür. »Was war das für ein Lärm?«
»Nichts, nichts!« Schnell wickelt Partridge die Ampullen ein. Auf seiner Hand erblühen brennende Flecken. Er stolpert zum Regal, hebt das Einmachglas hoch und schiebt das Bündel ins Loch. Gleichzeitig rettet sich der Käfer in die Dunkelheit unter der Holzplatte.
Mit einem Klappern fliegt die Kellertür auf, und im Schein der trüben Gangbeleuchtung steht Mutter Hestra. »Was war das für ein Lärm hier unten?«
»Nur ein Sprechgesang aus der Akademie. Manchmal ist es mir hier einfach zu leise.« Partridge zwingt sich, sich nicht die brennende Hand zu reiben. Er will keine weiteren Fragen herausfordern.
Mutter Hestra ist eine stämmige Erscheinung. Ihr fünfjähriger Sohn Syden ist für immer mit ihrem Bein verschmolzen. Sie trägt zusammengeflickte, ihrer Körperform angepasste Felle mit einem Loch knapp oberhalb der Hüfte – für den fleckigen Kopf ihres Sohns. Fast alle Mütter sind Mehrlinge, die mit ihren Kindern verbunden sind, doch Partridge hat sich immer noch nicht daran gewöhnt. Als die Bomben fielen, hielten die Mütter ihre Kinder im Arm, um sie vor den Lichtblitzen zu schützen. Sie beugten sich zu ihnen hinab, trösteten sie. Partridge kann sich nicht vorstellen, wie es sein muss, bis in alle Ewigkeit klein zu bleiben, nie aufzuwachsen, immer im Körper der eigenen Mutter gefangen zu sein. Sydens Gesicht altert allmählich. Wird er in dieser Gestalt alt werden?
Mutter Hestra starrt Partridge wütend an. In ihre eine Wange haben sich Worte eingebrannt, spiegelverkehrte Buchstaben, die ihre Haut während der Bombenangriffe versengt haben – ein schwarzer Abdruck wie ein Tattoo. Partridge hat die Worte nie lange genug studiert, um sie zu entziffern. Er will nicht unhöflich sein.
»Lass das Gesinge«, sagt Mutter Hestra.
»Ich wollte sowieso schlafen gehen.«
»Gut. Morgen brechen wir auf. Ich wecke dich früh.«
»Kommen Lyda und Illia auch mit?« Partridge wäre es lieber, wenn Illia nicht mitkommt. Sie ist wahnsinnig. Nicht dass er es ihr verdenken könnte – ihr Mann hat sie auf der Farm festgehalten und misshandelt. Er hat sie gezwungen, ihre Narben unter einem Ganzkörperstrumpf zu
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