Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
sein Gesicht vorzustellen, zerfällt das Bild vor ihrem inneren Auge.
Mit der Spieluhr in der Hand geht sie aus dem Lagerraum in die zugige Fabrikhalle, in der nur eine einzige trübe Lampe brennt. Das Glimmen führt sie durch die Reihen der alten Fließbänder, vorbei an Maschinen und freiliegenden Rohren. Die Mütter haben die Fabrik ausgeweidet, wie üblich. Sie haben Zahnräder, Ketten, gummierte Griffe und Hebel abmontiert, alles, was irgendeinen Wert hat. Nun wirkt die Halle wie ausgehöhlt. Lyda weiß, dass Mutter Hestra bald Unserer Guten Mutter von ihrer Schwangerschaft berichten wird. Sie fürchtet sich vor dem Urteil der Anführerin. Unsere Gute Mutter jagt ihr Angst ein.
Lyda presst die Spieluhr noch fester an die Brust und läuft, so schnell sie kann. An der gegenüberliegenden Seite der Fabrikhalle gibt es keine Tür mehr – sondern nur eine rechteckige Lücke, in der mal eine Tür hing. Als sie in die kühle Nachtluft tritt, zwitschert Freedle leise. Vielleicht freut er sich über den Ausflug ins Freie.
Trotz ihrer Einsamkeit will Lyda nicht, dass Partridge von ihrer Schwangerschaft erfährt. Das würde ihn nur von seiner Mission ablenken, einer Mission, die Lyda auf einmal viel mehr angeht als zuvor. Sie denkt an die Mädchen, die sie gesehen hat, an Wilda – die nicht als Reine geboren, aber gereinigt wurde. Sollte auch Lydas Baby mutiert sein, würde sie sich wünschen, dass es gereinigt werden könnte? Sie wäre froh, wenn sie diese Frage mit einem klaren Nein beantworten könnte, wenn sie stolz auf ihr Kind wäre, egal wie es aussieht. Aber hin und wieder denkt sie, dass das Kind vielleicht lieber rein wäre. Wäre das nicht ganz natürlich? Sollten die anderen einen Weg finden, die Schnelle Zelldegeneration umzukehren, könnte vielleicht auch ihr Kind geheilt werden.
Außerdem soll Partridge nicht von ihrer Schwangerschaft erfahren, weil er aus Liebe zu ihr zurückkehren soll, nicht aus Pflichtgefühl. Doch Lyda hasst sich für diese Gedanken. Er kommt nicht zurück. Das muss sie sich immer wieder sagen. Und ein Teil von ihr findet, dass er es gar nicht verdient hat, von der Schwangerschaft zu wissen. Das gehört ihr. Er ist weg. Sie muss lernen, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen.
Lyda läuft über das festgetretene, dreckige Eis auf dem Asphalt, umrundet eine Ecke der Fabrik und kommt zum Friedhof – ein kleiner, improvisierter Friedhof mit einem Zaun aus Metallstangen, die tief in den Boden getrieben und mit Stacheldraht verbunden wurden. Die Stangen reichen weit ins Erdreich, um Dusts fernzuhalten.
Sie entriegelt das Tor und schließt es hinter sich. Auf dem Friedhof stehen keine Grabsteine, sondern Steinmännchen, ein ordentlich aufgeschichteter Haufen blasser Steine auf jedem Grab. Zwei Gräber sind frisch – eine Mutter, die allein bestattet wurde, und eine Mutter mit ihrem Kind. Die Mutter und das Kind haben früher im neunten Bett geschlafen. Lyda hält vor ihrem Steinmännchen inne. Die Steine sind so weiß, dass sie fast leuchten. Als Lyda eine Hand auf den Fels legt, fühlt sie sich für einen Moment, als wäre alles und jeder ersetzbar. Diese Mutter und ihr Kind sind tot; Lyda und ihr Kind kommen dazu. Eines Tages werden auch sie sterben und unter einem Steinhaufen begraben oder wie Sedge und seine Mutter im Wald zurückgelassen werden. Körper. Sind wir Menschen nichts als Körper? Oder brennt in Lydas Innerem, in ihr und in ihrem Baby, der Funken einer Seele? Ist sie nun doppelt beseelt?
Die Spieluhr.
Lyda läuft in eine Ecke des Friedhofs, wo eine Gartenschaufel mit einem rauen Holzgriff liegt. Sie geht in die Knie und stellt die Spieluhr ab, hebt die Schaufel mit beiden Händen hoch in die Luft und erdolcht die gefrorene Erde. Der Boden bricht ein wenig auf. Wieder und wieder lässt sie die Schaufel mit aller Kraft niedergehen. Sie keucht und schnauft, bis sie das Schaufelblatt tief hineingraben und einen ganzen Erdbrocken herausstemmen kann, und noch einen Brocken.
Bald hat sie ein kleines Loch gegraben. Als sie die Spieluhr aufhebt, breitet Freedle vor Vorfreude die Flügel aus; er hat die Melodie schon immer geliebt. Lyda zieht die Uhr mit der kleinen Kurbel auf. Ihre Finger sind so taub, dass sie kaum gehorchen wollen. Sie erinnert sich, wie warm es war, als sie mit Partridge unter den Jacken im Rahmen des Himmelbetts gelegen hat. Sie braucht ihn jetzt. Tränen rinnen über ihre Wangen, als sie die Spieluhr ein letztes Mal öffnet. Die Noten springen
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