Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
keine intelligente Konversation mit dir machen könnte. Nicht wahr, Partridge?«
»Wir sind uns ein paarmal auf dem Flur begegnet«, fügt Arvin hinzu. »Als ich zu Besuch bei Freunden war.«
»Bei wem hattest du denn Privatstunden?«, erkundigt Partridge sich. »Bei welchen Lehrern?«
»Bei verschiedenen. Mal bei dem, mal bei dem. Es war so langweilig, ich hab’s kaum ausgehalten.«
»Bei wem genau? Glassings? Welch? Hollenback?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Sind die nicht alle gleich?«
»Ich muss los«, sagt Arvin.
»Willst du nicht noch ein Stück Kuchen?«, fragt Iralene. »Es gibt Zitronenkuchen!«
»Danke, aber ich bin pappsatt, und ich muss mich wirklich sputen.«
»Na gut.« Iralene zieht eine Schnute. »Schade, dass du schon gehst.«
Arvin lächelt sie an, hat aber nichts mehr zu sagen. Doch nach einem Schritt dreht er sich noch einmal um. »Dann bis morgen, Partridge.«
»Morgen?«
»Dein Vater ist ein großer Mann, aber seine Geduld ist begrenzt. Die Behandlung ist für morgen angesetzt.«
»Aber … aber das ist zu früh.«
»Was können wir schon daran ändern? Nichts. Du kannst dich nur noch darauf vorbereiten. Mental vorbereiten.«
Mental , denkt Partridge. Wie bereitet man sich mental darauf vor, einen Brocken Erinnerung zu verlieren?
Arvin zögert einen Moment, als wollte er noch etwas sagen, und wirft einen Blick auf Iralene – in ihrer Gegenwart kann er nicht offen sprechen. Anscheinend überlegt er, wie er es anders ausdrücken könnte.
»Was ist los?«, fragt Iralene.
»Nichts«, entgegnet Arvin. »Ich bin nur froh, dass Partridge wieder da ist. Das ist alles.« Er blickt ihm in die Augen. »Gut, dass du wieder da bist. Dass du hier bist.«
»Was redet er da?« Iralene stupst Partridge mit dem Ellenbogen an.
»Wieder da? Hier?«, sagt Partridge. »Ha, ha, ha! Ich war doch nie weg!«
LYDA
Steinmännchen
Mitten in der Nacht schiebt Lyda die Hand unter ihr kaltes Kopfkissen und ertastet die Metallkante der Spieluhr, die sie an der verputzten Mauer versteckt. Sie hält die Spieluhr vor die Brust. Normalerweise klappt sie den Deckel auf – nur ganz kurz –, um ein paar Noten entkommen zu lassen, als würde die Musik sonst in dem Kästchen ersticken und sterben. Aber heute nicht. Heute richtet sie sich auf und schiebt die Füße in die eisigen Stiefel. Sie bindet die Schnürsenkel nicht, sie zieht sich nicht an, sondern wirft nur den Mantel, den sie von den Müttern bekommen hat, über das Nachthemd. Freedle zwitschert blechern. Will er mitkommen? Sie setzt ihn auf die Schulter, nah an ihren Hals, dorthin, wo früher ihr langes Haar gefallen ist. Dann schleicht sie sich so leise wie möglich hinaus, vorbei an den schlafenden Müttern und Kindern. Es ist Winter; viele haben eine verstopfte Nase, atmen schnaufend ein und aus und kommen nicht zur Ruhe.
Im Moment leben sie in einem alten Lagerraum unter einer Fabrik, in der früher irgendein Zuckerzeug hergestellt wurde – etwas Gummiartiges, das auch aus tierischen Zutaten bestand. Selbst ein knappes Jahrzehnt später hängt noch ein ekelhaft süßlicher Geruch mit dem dunklen Aroma des Todes in der Luft. Ein Geruch, bei dem Lyda schlecht wird. Den ganzen Tag hat Mutter Hestra sie über die Schwangerschaft aufgeklärt. Sie hat ihr erzählt, dass ihr noch eine Weile übel und schwindlig sein wird, was sich jedoch legen wird, wenn ihr Bauch weiter wächst, dass ihre Brüste spannen werden – sie sind schon jetzt empfindlich – und dass sie mehr essen muss. Lyda hat sie nach den Wehen und nach der Geburt gefragt, aber darüber will sie erst später reden. »Wir müssen uns nicht alles auf einmal vornehmen.«
Doch Lydas Gedanken eilen weiter voraus. Die Kinder der Überlebenden sind ebenfalls verändert. Die Auswirkungen der Explosionen reichen so tief, dass selbst der genetische Code ihrer Babys betroffen ist. Manche Auffälligkeiten könnten auch von Umwelteinflüssen herrühren. Die Strahlung wurde in die Erde, in die Luft und ins Wasser gehämmert und darin versiegelt. Sie wird von der Asche weitergetragen, von Lungen eingeatmet. Das hat Lyda im Kapitol gelernt. Wird auch ihr Kind entstellt sein? Im Traum hat sie etwas Pelziges, Deformiertes zur Welt gebracht, ein Wesen mit Reißzähnen und gläsern glitzernden Rippen.
Solche Sorgen kennt Partridge nicht. Er weiß von nichts. Und Lyda ist einsam, einsamer denn je. Seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hat, ist ein Monat vergangen. Manchmal, wenn sie versucht, sich
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