Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
von uns muss gehen. Einer muss bleiben.«
Bradwell antwortet nicht.
Sie hebt die blaue Decke an. Es blutet weniger stark. Die Wunde ist geschwollen, läuft aber nicht mehr ungebremst aus. »Helmud«, sagt sie. »Leg deine Hand dahin, wo meine Hand ist.« Sie hält ihm ein trockenes Stück Decke hin. Als er es entgegennimmt, drückt sie von oben auf seine Finger. »Gleichmäßig draufdrücken, ja?«
»Draufdrücken, ja.«
Pressia steht auf und geht vorbei an Bradwell zur Tür. Sie sieht nur seinen Rücken, die unruhigen Vögel unter seinem Hemd, während er auf seine Knöchel starrt, die er sich anscheinend aufgeschürft hat. In der Wand ist eine Delle, die Verkleidung ist gesplittert wie ein Spinnennetz. Pressia klettert in die Kabine, holt eine Tasche mit Vorräten und kommt zurück.
»Ich gehe«, sagt sie. »Du bleibst.«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf und dreht sich um. »Nein. Sicher nicht.«
Sie schiebt ihm die Tasche in die Arme. »Doch. Ganz bestimmt.«
»Du kannst auf keinen Fall allein losziehen.«
»Hast du vergessen, dass ich unter anderem aus purem Egoismus hier bin?«
»Du wirst deinen Vater nicht finden, Pressia.«
»Wenn du da rausgehst und meinen Vater oder auch nur irgendeinen mickrigen Hinweis auf ihn findest, werde ich dir nie verzeihen, dass du mir zuvorgekommen bist. Das ist meine Mission.«
»Aber auch meine, Pressia. Wem hat Walrond denn die Nachricht hinterlassen, bevor er sich umgebracht hat? Meinen Eltern. Und dann hab ich sie im Bett gefunden. Erschossen.«
Pressia bleibt der Atem in der Kehle stecken. »Du hast sie gefunden ?«
Er wirft einen Blick auf Helmud, der die Decke weiter auf die Schläfe seines Bruders hält.
»Bradwell«, flüstert sie.
»Es war Morgen. Ich bin zum Frühstück runtergegangen, aber sie waren nicht in der Küche. Deshalb bin ich durchs Haus gelaufen und hab nach ihnen gerufen. Irgendwann bin ich gerannt … und hab ihre Tür aufgemacht. Da lagen sie dann.«
»Es tut mir so leid …«
»Zuerst hab ich gar nicht kapiert, dass sie tot sind. Das Blut sah nicht mehr nach Blut aus, es war getrocknet. Aber als ich näher ran bin und meine Mutter angestupst habe, war ihr Arm steif und kalt. Und ihre Haut war blau angelaufen.«
»Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Ich hatte viele Jahre Zeit, darüber hinwegzukommen.«
»Über so was kommt man nicht hinweg.«
»Dann bin ich eben auch egoistisch. Ich bin hier, weil meine Eltern tot sind. Willux hat sie umbringen lassen. Ich mach das alles nicht bloß zum Spaß. Oder um für die gute Sache zu kämpfen.«
»Bradwell«, sagt sie leise. »Ich werde gehen. Du wirst bleiben. Weil mein Vater noch leben könnte.« So grausam es auch klingt, es ist die Wahrheit.
Fignan hangelt sich aus der Cockpittür.
»Du kannst mich nicht mit Cap hierlassen. Er hat dich geküsst . Er hat gesagt, dass er dich …«
Soll das heißen, dass er ihr die Schuld gibt? Dass er glaubt, sie hätte El Capitán Hoffnungen gemacht oder sich hinter seinem Rücken mit ihm eingelassen? Pressia dreht sich um und tastet sich auf unsicheren Beinen über die Seitenwand des Luftschiffs in die Kabine und weiter zur Außentür, die sich nun fast über ihrem Kopf befindet.
»Warte!«, ruft Bradwell. »Nicht! Du kannst doch nicht …«
Sie klettert an den Sitzen hoch wie an einer Leiter und dreht die große Kurbel, die die Luke versiegelt, bis die Klappe nach innen schwingt.
»Du willst wirklich gehen.«
»Ich brauche Fignan, um mich zu orientieren. Gib ihn mir.« Auf den Ellenbogen hievt sie sich durch die Öffnung, bis sie auf der Außenwand der Gondel sitzt. Trotz des Lichts, das aus der offenen Luke, aus dem gläsernen Cockpit und aus den Bullaugen dringt, ist es im Freien stockdunkel.
Verzweifelt fährt Bradwell sich durchs Haar und über die Narben an seiner Wange.
»Dann gehe ich eben ohne Fignan. Willst du das?«
Er seufzt, hebt Fignan auf und reicht ihn durch die Luke. Automatisch schaltet Fignan einen Strahler ein, der einen schmalen Lichtkegel über die umliegenden Felder und fernen Bäume huschen lässt.
Pressia rutscht von der Gondel auf den Boden.
Sofort klettert Bradwell hoch zur Tür. Sie sieht ihn an – sein Haar, das wirr vom Kopf absteht, seine starken Schultern, seine dunklen, feuchten Augen. Was denkt er über sie? Was denkt er über ihre Beziehung? Er ist undurchschaubar. Eine Blackbox.
Auf den Lippen spürt sie noch El Capitáns Kuss. Ein zärtlicher Kuss. Diese Zärtlichkeit hat sie wohl am meisten
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