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Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Titel: Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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versucht er manchmal fast, ihre Lippen zu lesen, weil er sie kaum hören kann. Als würde er mit den Belugas durch den Tank schwimmen und durch die dicke Glasscheibe nach draußen starren. »Wie bitte? Verzeihung, ich habe nicht verstanden?«
    Die Erschöpfung sitzt ihm tief in den Knochen. Wie damals, kurz nach den Explosionen, als seine Mutter starb. Damals fühlte er sich so schwer, dass er sich kaum bewegen konnte, als hätte sich sein Körper mit Wasser vollgesogen. Gesegnet, gesegnet  – das war die Zeit, als das Wort plötzlich überall war. Wir sind gesegnet, weil wir es ins Kapitol geschafft haben. Und war es etwa die Schuld der Gesegneten, dass es andere nicht geschafft hatten? Es lag nicht in der Hand der Menschen, den Segen zu verteilen, und so war auch niemand schuld daran. Gesegnet oder nicht gesegnet zu sein – eine verborgene Eigenschaft, die mit einem Mal aus der Tiefe der Seele emporgeholt worden war, sodass jeder sah, wer gesegnet war und wer nicht. Es war eindeutig. Es gab sogar eine Liste.
    Deshalb verboten sich Schuldgefühle von selbst. Was für eine Schuld hatte man schon auf sich geladen? Gottes Liebe? Gottes Segen?
    Partridge hätte sich seines Glücks freuen sollen, wie alle anderen auch. Wer sich nicht freute, vergeudete Gottes Segen. Und Partridge versuchte es, doch dadurch lastete die Trauer – die unausgesprochene, verscharrte Trauer – nur noch schwerer auf ihm. Es war eine körperliche Trauer. Daran erinnert ihn die Zeit nach dem Koma am meisten: an die Körperlichkeit der Trauer.
    Aber nun hat er keinen Grund zu trauern. Soweit er sich erinnern kann, ist sein Leben so schön wie noch nie. Als Iralene und er einmal nachts auf die Strandlandschaft blicken, gesteht er ihr, dass sein Leben so viel besser ist, dass es ihm beinahe komisch vorkommt. »Als wäre ich in einen Körper gesteckt worden, der mir nicht so richtig gehört.«
    »Ein falscher Körper? Das klingt ja schrecklich!«, ruft sie und starrt ihn großäugig an. Er hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass Iralene alles wörtlich nimmt.
    »Okay, kein falscher Körper. Es ist mehr wie früher in der Akademie, wenn ich mir aus Versehen den Blazer eines Klassenkameraden geschnappt habe, der dann am Rücken zu eng und an den Armen zu kurz war. Irgendwie falsch.«
    »Das liegt daran, dass du noch die Zeit aufholen musst. Du hinkst immer noch hinterher, du musst dich erst zur Zukunft vorarbeiten. Zum Jetzt.«
    »Ach ja?«
    »Es ist nicht falsch . Du musst dich nur dran gewöhnen, dann fühlt es sich auch richtig an. Okay? Und im Moment hast du doch keinen Grund, dich zu beschweren …« Wieder erinnert Partridge sich an die Gesegneten und nicht Gesegneten, an die Unglückseligen, die draußen ihr erbarmungsloses Schicksal fristen. Wie sieht ihr Leben wirklich aus? Er reibt sich den Nacken und stellt sich vor, Asche und Staub zu schmecken. Eine Vorstellung, die so real wirkt, dass man sie fast für eine Erinnerung halten könnte.
    ***
    Als die Akademie zu den Weihnachtsferien schließt, will Partridge einen Spaziergang durch seine alte Schule unternehmen. »Komm schon!«, sagt er zu Iralene. »Kann ich nicht auch mal was vorschlagen?«
    »Na gut.« Sie gibt nach. »Wenn du unbedingt willst!«
    Das Wohnheim ist bereits geschlossen, doch Beckley lässt sie durch ein offenes Fenster im untersten Stock einsteigen.
    Partridge zeigt Iralene sein altes Zimmer. Es ist verwaist, leergeräumt. Er erzählt ihr von der alten Nervensäge Hastings, unter anderem von Hastings’ Lieblingsspruch: »Ich nehme es nicht persönlich«. Und dann nahm er doch alles persönlich. Er vermisst Hastings. »Er war ein großer, schlaksiger Typ, der ständig am Rumalbern war«, erklärt Partridge. »Er wollte einfach nur Spaß haben. Das war sein Sinn im Leben.«
    Iralene wandert durchs Zimmer, setzt sich aufs untere Bett und federt hoch und runter. »War das deins?«
    »Nein.« Er deutet die Leiter hinauf.
    Lächelnd klettert Iralene auf das Stockbett und legt sich auf die abgezogene Matratze, die Arme hinterm Kopf verschränkt. »Was hast du hier oben so geträumt?«
    Er hat von Mädchen wie Iralene geträumt, die zur Tür hereinkamen und zu ihm ins Bett stiegen. Im selben Moment hört er das Ticken der Belüftungsanlage. Selbst wenn das Wohnheim leersteht, wird die Temperatur reguliert. Partridge geht zum Fenster. »Was ich hier geträumt habe?« Er erinnert sich, wie sich die Mädchen unten auf der Wiese in Reihen aufgestellt haben, um ihre

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