Memento - Die Überlebenden (German Edition)
in die andere, wenn er ausatmet. Sie ist so sehr an den Ventilator gewöhnt, dass sie ihn manchmal monatelang überhaupt nicht bewusst wahrnimmt, bis zu einem Augenblick wie diesem, wenn sie sich unversehens losgelöst fühlt von ihrem Leben und alles überraschend ist.
»Und?«, fragt er. »Gefällt es dir? Meinst du, du kannst darin schlafen?«
Sie hasst den Schrank, doch sie will seine Gefühle nicht verletzen. »Ich fühle mich wie ein Kamm in seiner Schachtel«, antwortet sie. Sie wohnen im Hinterzimmer eines ausgebrannten Friseurladens. Es ist ein kleiner ehemaliger Lagerraum mit einem Tisch, zwei Sesseln, zwei alten Paletten auf dem Fußboden – eine, auf der ihr Großvater schläft, und ihre eigene – und einem selbst gemachten Vogelkäfig, der an einem Haken von der Decke baumelt. Sie kommen und gehen durch die Hintertür, die in eine Gasse mündet. In der Zeit Davor waren hier Friseurutensilien gelagert – Schachteln voll mit schwarzen Kämmen, Flaschen mit blauem Barbasol, Kanister mit Rasierschaum, ordentlich gefaltete Handtücher, weiße Umhänge, die sich eng um den Hals der Kundschaft legen. Sie ist ziemlich sicher, dass sie Albträume haben wird. Sich fühlen wird wie blaues Barbasol, gefangen in einer Flasche.
Ihr Großvater beginnt zu husten, der Ventilator surrt wie verrückt. Sein Gesicht läuft tiefrot an. Pressia klettert hastig aus dem Schrank, geht zu ihm, schlägt ihm auf den Rücken, bearbeitet seine Rippen. Wegen des Hustens sind seine Kunden weggeblieben – er war Leichenbestatter in der Zeit Davor, später wurde er Fleisch-Schneider, wandte sein Geschick im Umgang mit den Toten an, indem er die Lebenden nähte.
Sie pflegte ihm zu helfen, indem sie die Wunden mit Alkohol sauber hielt, die Instrumente aufreihte und gelegentlich ein verzweifelt zappelndes Kind festhielt. Aber jetzt denken die Leute, er sei infiziert.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Pressia.
Langsam lässt der Husten nach, er kommt wieder zu Atem. Er nickt. »Bestens.« Er hebt seinen Ziegelstein vom Boden auf und legt ihn auf den Beinstummel, kurz oberhalb des abgetrennten Pfropfs aus Drähten. Der Ziegelstein ist sein einziger Schutz gegen die OSR. »Dieser Schlafschrank ist das Beste, was wir haben«, sagt ihr Großvater. »Hab ein wenig Geduld.«
Pressia weiß, dass sie mehr Dankbarkeit empfinden sollte. Er hat das Versteck vor ein paar Monaten gebaut. Die Schränke nehmen die gesamte Wand zum eigentlichen Friseurladen ein. Der größte Teil dessen, was von dem zerstörten Laden übrig ist, liegt ungeschützt unter freiem Himmel. Ein großes Stück Decke wurde sauber weggesprengt. Pressias Großvater hat die Schubladen und Regalböden aus der Schrankwand genommen und parallel zur Rückwand ein Paneel eingesetzt, das wie eine Falltür funktioniert und in den Laden führt. Falls sie fliehen muss, kann sie das Paneel nach außen drücken und in den Laden entkommen. Und dann, wohin von dort aus? Ihr Großvater hat ihr ein altes Bewässerungsrohr gezeigt, in dem sie sich verstecken kann, während die OSR den Lagerraum filzt, einen leeren Schrank findet und Großvater ihnen erzählt, dass sie schon seit Wochen verschwunden ist und wahrscheinlich nie mehr zurückkehren wird, vielleicht inzwischen längst tot ist. Er versucht sich hartnäckig einzureden, dass sie ihm glauben werden, dass sie später wieder zurückkehren kann, dass die OSR sie anschließend in Ruhe lassen wird. Sie wissen natürlich beide, dass das unwahrscheinlich ist.
Sie weiß von einigen älteren Kindern, die abgehauen sind – einem Jungen mit Namen Gorse und seiner jüngeren Schwester Fandra, einer guten Freundin von Pressia, bevor sie vor ein paar Jahren untergetaucht sind, dann einem Jungen ohne Kiefer und zwei anderen Kids, die sagten, dass sie heiraten würden, weit weg von hier. Es gibt Gerüchte von einem Untergrund-Netzwerk, das Kids aus der Stadt schafft, vorbei an Meltlands und Deadlands zu einem Ort, wo es andere Überlebende gibt, ganze Zivilisationen, wer weiß? Doch das sind alles nur Gerüchte, wohlgemeinte Lügen, die trösten sollen. Die Kids sind einfach verschwunden. Niemand hat sie je wiedergesehen.
»Ich schätze, ich werde noch genug Zeit haben, um mich daran zu gewöhnen. Alle Zeit der Welt sogar – in zwei Wochen von heute an«, sagt sie. Sobald sie sechzehn geworden ist, muss sie im Zimmer bleiben und im Schrank schlafen. Ihr Großvater hat ihr das Versprechen abgenommen, wieder und wieder, dass sie nicht
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