Memoiren 1902 - 1945
Goethes Faust kannte ich fast auswendig. Sagt er nicht: «...Und sehe, daß wir nichts wissen können!» Solche Gedanken beschäftigten auch mich, ein junges Mädchen. Warum Philosophie studieren, wenn es keine Antworten auf die entscheidenden Fragen gibt? Wohl wäre es faszinierend, sich mit der Fülle philosophischer Systeme auseinanderzusetzen, aber was wäre mein Beitrag, und würde ich vielleicht nie über unproduktives Grübeln hinauskommen? Der wahre Grund meiner Unentschlossenheit lag aber vermutlich darin, daß ich das Tanzen nicht aufgeben wollte. Es ging nicht um die Bühne, die war mir so wichtig nicht, sondern um den Tanz. Auf ihn für immer zu verzichten, war mir ein unerträglicher Gedanke.
Da fiel mir etwas ein - eine listige Idee. Ich wußte, es war der geheime Wunsch meines Vaters, mich als Privatsekretärin und Vertraute in seinem Büro um sich zu haben. Wenn ich ihm diesen seinen Lieblingswunsch erfüllen würde, könnte ich mir vorstellen, daß er mir daneben meine Tanzstunden erlauben würde, natürlich mit dem Versprechen, nie mehr an eine Bühne zu denken. Nachdem ich mir dies alles so zurechtgelegt hatte, schrieb ich meinem Vater einen diplomatischen Brief und war überglücklich, als ich seine Antwort erhielt.
Er war einverstanden.
Letztes Auftreten als Schülerin der Grimm-Reiter-Schule, dieses Mal mit
Erlaubnis des Vaters. Erst nach ihrem neunzehnten Geburtstag
konnte Leni Riefenstahl mit ihrer beruflichen Ausbildung
als Tänzerin im Russischen Ballett beginnen.
Auf dem Tennisplatz
A n meinem ersten Arbeitstag bei meinem Vater wurde mir die Portokasse übergeben. Ich erinnere mich noch heute, daß ich eine Überstunde machte, weil ich ein Defizit von fünf Pfennig in der Kasse nicht aufklären konnte.
Ich mußte Schreibmaschine, Stenographie und Buchhaltung erlernen. Mein Vater war mit mir zufrieden und ich auch, denn dreimal in der Woche durfte ich meine geliebten Tanzstunden nehmen, in denen ich mich ausleben konnte. Er gab mir sogar die Erlaubnis, an einem Tanzabend der Grimm-Reiter-Schule im Blüthner-Saal teilzunehmen.
Um mir eine Freude zu bereiten, erlaubte mir mein Vater auch den Tennis-Unterricht. Er hatte im Berliner Schlittschuhclub Bekannte, die auf mich aufpassen sollten. Von nun an verbrachte ich viele Stunden auf den Tennisplätzen.
In kurzer Zeit lernte ich dort nette Menschen kennen. Vor allem meine beiden Tennislehrer, mit denen ich mich befreundete. Der eine war Max Holzboer, der Kapitän der Eishockey-Mannschaft des Berliner Schlittschuhclubs, dem ich später wegen seines eindrucksvollen Aussehens in den Filmen «Das blaue Licht» und «Tiefland» Rollen gab. Der andere, Günther Rahn, war früher einmal Adjutant bei Seiner Königlichen Hoheit, dem Kronprinzen Wilhelm, gewesen, wurde dann Tennis-Profi, reiste von einem Turnier zum anderen und gab mir nur deshalb Tennisstunden, weil er in mich heftig verliebt war. Bald konnte ich schon leichte Turniere spielen.
In dieser Zeit erlebte ich etwas sehr Merkwürdiges. Ich befand mich in der Damengarderobe des Berliner Schlittschuhclubs, als die Tür von einem Mann geöffnet wurde. Er blieb stehen und blickte mich lange an. Sein Blick irritierte mich. Es waren graue, etwas verschleierte Augen, die eine Suggestion auf mich ausübten. Dann wurde die Tür geschlossen. Es dauerte noch eine Zeit, bis sich die Spannung in mir löste. Ich hatte so etwas wie Funken gespürt, ein mir unbekanntes Gefühl.
Die Tennisplätze vom Berliner Schlittschuhclub waren überfüllt, als das Endspiel der besten deutschen Spieler stattfand: Otto Froitzheim, seit Jahren ungeschlagener deutscher Meister, gegen Kreutzer, Deutschlands zweitbesten Spieler. Da erkannte ich in Otto Froitzheim den Mann, dessen Blick mich kurz vorher in dem Garderobenraum so verwirrt hatte. Im Tennisclub wurde öfter über ihn gesprochen, nicht nur von seinem guten Spiel, mehr noch von seinen un
zähligen Liebesaffären. Und ausgerechnet dieser Mann hatte eine solche Wirkung auf mich ausgeübt. Ich nahm mir fest vor, alles zu vermeiden, um ihn kennenzulernen, da ich ihn wegen seines Rufes als Lebemann fürchtete.
Erste Operation
I n jedem Jahr fuhr mein Vater im Frühsommer zur Kur nach Bad Nauheim - er war herzkrank. Dieses Mal durfte ich meine Eltern begleiten. Da ich hier keine Tanzstunden hatte, spielte ich viel Tennis. Unter meinen Partnern befanden sich zwei gutaussehende junge Männer, die um meine Gunst warben und mich
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