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Memoiren 1902 - 1945

Memoiren 1902 - 1945

Titel: Memoiren 1902 - 1945 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leni Riefenstahl
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Dekorationsgeschäft in der Prager Straße hatte, und nach dem Essen schlief ich dort zwei Stunden. Am Nachmittag ging ich zusätzlich in die Jutta-Klamt-Schule, wo Ausdruckstanz gelehrt wurde, und am Abend fuhr ich mit meinem Vater wieder nach Zeuthen hinaus.
      Diese abendlichen Heimfahrten wurden für mich beunruhigend. Der Grund war Walter Lubowski. Immer wieder versuchte er, sich mir zu nähern, und ich vermied alles, was in ihm irgendeine Hoffnung wecken konnte. Seine fanatische Zuneigung erschreckte mich. Abends, wenn ich mit meinem Vater nach Zeuthen fuhr, stieg er in dasselbe Abteil und setzte sich uns gegenüber. Er trug eine große dunkle Sonnenbrille und war immer schwarz gekleidet. Er wurde mir immer unheimlicher. Mein Vater kannte ihn nicht, aber es fiel ihm auf, daß derselbe junge Mann mit der Sonnenbrille jeden Tag in unserem Abteil saß. Niemals wurde ein Wort zwischen uns gewechselt. Walter hätte nichts Törichteres tun können, als so aufdringlich zu handeln. Meine Abneigung wuchs nur um so stärker.
      Es war ein sehr kalter Wintertag. Ich hatte in unserem Haus mit meinem Vater noch eine Partie Billard gespielt, während meine Freundin Hertha, die zu Besuch bei uns war, sich mit meiner Mutter unterhielt. Meine Eltern sagten uns dann gute Nacht und gingen in die obere Etage, wo sich ihr Schlafzimmer befand. Mein Zimmer lag unmittelbar darunter. Draußen heulte ein scheußlicher Sturm, die Fensterläden wurden hin- und hergeschlagen. Hertha und ich wollten uns auch gerade schlafenlegen, als es an der Tür klopfte. Wir erschraken - wer konnte das sein? Es war schon Mitternacht. Wir standen in der Nähe der Tür und machten keine Bewegung. Nach einer Weile klopfte es wieder. Die Spannung wurde unerträglich - was sollten wir tun? Meinen Vater rufen - das wagte ich nicht. Dann war mir, als ob ich eine klagende Stimme hörte. Ich öffnete die Tür ein wenig und sah entsetzt draußen im Schneesturm Walter, der unbeweglich vor Kälte dastand. Wir zogen ihn ins Haus. Wenn mein Vater herunterkäme, würde er mich schlagen. Aber Walter wäre erfroren, wenn wir ihn nicht hereingebracht hätten. Wir führten ihn in mein Schlafzimmer, zogen ihm die nassen Kleider aus, trockneten ihn ab und legten ihn aufs Bett. Hertha kochte Tee, den wir ihm einflößten - er konnte kein Wort herausbringen, nur noch winseln. Fast eine Stunde lang blieben wir bei ihm, dann schien er eingeschlafen zu sein. Wir gingen ins Nebenzimmer und berieten, was wir mit ihm machen könnten, ohne daß mein Vater etwas bemerkte. Da hörten wir aus meinem Zimmer Stöhnen. Leise schlichen wir zu ihm und sahen entsetzt Blut auf der Bettdecke. Der rechte Arm hing herab bis zum Fußboden, auf dem sich schon eine Blutlache gebildet hatte. Walter hatte sich die Pulsader aufgeschnitten und war ohnmächtig geworden. Ich zerriß ein Handtuch, umwickelte die blutende Wunde und hielt seinen Arm hoch, während Hertha ihm kalte Umschläge aufs Gesicht und auf den Oberkörper legte.
      Nach einiger Zeit fing er wieder an zu stöhnen - er lebte noch. Wir
blieben bis zum Morgengrauen bei ihm. Dann schleppten wir ihn in das Nebenzimmer, legten ihn dort unter die Couch, wischten alle Blutspuren auf und warteten zitternd vor Angst auf meine Eltern. Mein Vater hatte noch nichts bemerkt.
      In der Küche berichtete ich meiner Mutter das furchtbare nächtliche Geschehen. Die Angst vor der Entdeckung durch meinen Vater ließ uns gemeinsam verschwiegen handeln. Die ganze Verantwortung für Walters Leben lag nun bei meiner armen Mutter, da Hertha und ich ja mit meinem Vater nach Berlin fahren mußten. Ich hatte mit der Mutter verabredet, daß sie sofort einen Arzt kommen ließe, der ihn in ein Krankenhaus bringen lassen würde. Hertha und ich wollten inzwischen Walters Geschwister verständigen.
      Er wurde gerettet, mußte aber längere Zeit in einer psychotherapeutischen Klinik behandelt werden. Man befürchtete einen Rückfall. Er durfte mich nicht mehr sehen.
      Später brachte ihn seine Familie nach Amerika, wo er langsam gesundete. Er konnte in San Francisco sein Studium in Mathematik und Volkswirtschaft fortsetzen und brachte es sogar bis zum Professor. Bis an sein Lebensende konnte er mich nicht vergessen. Bevor er in San Francisco fast total erblindet starb, besuchte er mich und meine Mutter noch einige Male nach Kriegsende in Kitzbühel und München.

    Der Zauberkünstler

    I m Juli 1923, vor Beginn der Inflationszeit, erlaubten mir meine

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