Memoiren 1902 - 1945
Zeuthen brach es dann eines Abends aus ihm heraus. Er schrie mich an wie ein Irrsinniger: «Ich weiß, du willst doch zur Bühne gehen - du belügst mich - nur um mich zu täuschen, arbeitest du als Sekretärin bei mir - nie hast du daran gedacht, dein Versprechen zu halten. Ich habe keine Tochter mehr!»
Das war zuviel - zu ungerecht. Es war mein fester Wille gewesen, auf eine Bühnenlaufbahn zu verzichten. Erregt, aber innerlich wie befreit, lief ich aus dem Zimmer, packte einen Koffer mit den allerwichtigsten Sachen, küßte und tröstete meine arme, weinende Mutter und verließ, so schnell ich konnte, das elterliche Haus. Wie gehetzt rannte ich durch den Wald zum Bahnhof, aus Furcht, mein Vater könnte seinen Zornausbruch bereuen und mich zurückholen.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich fuhr zu meiner Großmutter, der Stiefmutter meiner Mutter, nach Berlin-Charlottenburg, wo sie eine bescheidene Wohnung hatte. Es war schon spät, als ich bei ihr eintraf. Sie war sehr lieb und zeigte Verständnis für meine Lage.
In dieser Nacht fühlte ich, daß es wie Zentnerlasten von mir abfiel. Etwas Elementares hatte sich ereignet. Meine Schicksalsstunde war gekommen. Meinen Lebensunterhalt und das Geld für meine Ausbildung wollte ich mir als Theaterstatistin verdienen. Ich nahm mir vor, einige Jahre hart zu trainieren, nichts anderes zu tun als zu arbeiten und vor allem meinem Vater zu beweisen, daß ich eine gute Tänzerin werden und ihm nie Schande bereiten würde, was er so sehr fürchtete.
Aber es kam ganz anders als gedacht. Schon am nächsten Morgen wurde ich durch einen Angestellten meines Vaters in sein Büro bestellt. Er hatte von meiner Mutter erfahren, wo ich mich aufhielt. Herzklopfend stand ich ihm gegenüber, entschlossen, mit allen Mitteln nie mehr meine eben erst erkämpfte Freiheit aufzugeben. Mein Vater schien gefaßt. Mit erzwungener Ruhe und großer Selbstbeherrschung sagte er, ich hätte einen ebenso harten Schädel wie er selbst, und nur meiner Mutter zuliebe erkläre er sich mit meiner Tanzausbildung einverstanden.
«Ich persönlich», sagte er «bin überzeugt, daß du nicht begabt bist und auch nie über den Durchschnitt hinauskommen wirst, aber du sollst später nicht sagen, ich hätte dein Leben zerstört. Du wirst eine erstklassige Ausbildung erhalten, und alles andere liegt bei dir allein.»
Er machte eine Pause, und ich konnte ihm ansehen, wie schwer ihm das Sprechen fiel. Fast hätte ich wieder Mitleid mit ihm bekommen. Als er aber voller Verbitterung fortfuhr: «Hoffentlich muß ich mich nicht später zu Tode schämen, wenn ich deinen Namen an den Litfaßsäulen lesen sollte», verhärteten sich meine Gefühle von neuem. Und doch war ich von tiefer Dankbarkeit erfüllt. Während er diese harten Worte sprach, legte ich vor mir das Gelübde ab, nie etwas zu tun, was meinen Vater enttäuschen könnte.
Noch am gleichen Tag ging er mit mir zu der hervorragenden russischen Ballettlehrerin Eugenie Eduardowa, einer ehemals berühmten Solotänzerin aus Petersburg. Auch ihr sagte er, ich sei seiner Überzeugung nach unbegabt, und die ganze Tanzerei wäre nur ein Spleen von mir. Sie solle mich mit größter Strenge unterrichten.
Niemand war glücklicher als meine Mutter, als ich am Abend mit meinem Vater gemeinsam nach Zeuthen kam. Nun begann für mich eine wunderbare Zeit, wenn auch die Ballettstunden außerordentlich anstrengend waren. Mit neunzehn Jahren war ich eigentlich schon zu alt für diesen Unterricht. Die meisten von Eugenie Eduardowas Schülerinnen fingen mit sechs bis acht Jahren an. Und diesen großen Vorsprung mußte ich versuchen einzuholen. Ich übte, bis mir manchmal vor Erschöpfung schwarz vor Augen wurde, aber immer wieder gelang es mir, durch Willenskraft meine Schwäche zu überwinden. Da ich von frühester Jugend an durch Sport trainiert war, schaffte ich es auch. Schon nach wenigen Monaten konnte ich minutenlang auf den Spitzen tanzen, und nach einem Jahr gehörte ich zu den Besten der Schule. Frau Eduardowa war mit mir zufrieden. Sie war nicht nur eine wunderbare Lehrerin, sie war eine außergewöhnliche Frau. Ich verehrte sie sehr.
Tragische Jugendliebe
M eine Tage verliefen in dieser Zeit ungefähr so:
In der Früh fuhr ich mit meinem Vater von Zeuthen nach Berlin. Am Vormittag hatte ich Ballettstunden in der Regensburger Straße, mittags aß ich bei meinem Onkel Hermann, dem älteren Bruder meines Vaters, der ein
Weitere Kostenlose Bücher