Memoiren 1945 - 1987
liebenswürdige, warmherzige Vermieterin.
In Königsfeld bestimmte die christliche Brüdergemeinde, die Dichterlesungen, Kirchenkonzerte und interessante Vorträge veranstaltete, das geistige Leben. Auch lebten hier viele Anhänger der antroposophischen Lehre Dr. Steiners, und in Königsfeld hatte auch der berühmte Religionsforscher und Afrikaarzt Dr. Albert Schweitzer ein kleines Sommerhaus besessen. Die Stadt besaß schöne Parkanlagen, Sanatorien, Pensionen und kleinere Hotels. Keine Hochhäuser oder häßliche Betonbauten verunstalteten den Ort.
Aber diese friedvolle Atmosphäre übertrug sich nicht auf mich. Täglich wartete ich mit immer größerer Ungeduld auf den Postboten — auf eine Nachricht, von der ich mir die Freiheit erhoffte.
An einem nebligen Herbsttag besuchte uns ein Fremder. Er stellte sich als ein Monsieur Desmarais aus Paris vor. Wir waren mehr als mißtrauisch. Er schien unsere Gefühle zu erraten und sagte mit weicher, einschmeichelnder Stimme: «Haben Sie keine Angst, ich bringe Ihnen gute Nachrichten.» Er sprach deutsch mit französischem Akzent. Sein Alter schätzte ich auf 45 bis 50 Jahre. Das Gesicht war etwas schwammig und der Ausdruck seiner Augen undefinierbar.
«Bevor ich Ihnen berichte, was mich hierherführt», sagte er, «möchte ich etwas zu meiner Person sagen.»
Wir hatten gerade ein Care-Paket erhalten, und so konnte meine Mutter ihm Tee und Gebäck anbieten.
«Ich komme aus Paris, bin aber in Deutschland geboren und lebte bis 1937 in Köln. Dann emigrierte ich nach Frankreich. Mein französischer Name ist Desmarais, mein deutscher ist Kaufmann.» Es entstand eine Pause. Keiner von uns wagte eine Frage. Zu sehr waren wir von dem, was hinter uns lag, eingeschüchtert.
«Ich kenne alle Ihre Filme», sagte er, «und ich bin ein großer Verehrer von Ihnen, ebenso meine Frau.»
«Würden Sie mir sagen, welchen Beruf Sie ausüben, sind Sie von der Presse?» fragte ich.
Er wehrte lächelnd ab. «Nein, Sie haben es mit keinem der bösen Journalisten zu tun, auch nicht mit einem getarnten Geheimagenten, ich bin ein französischer Filmproduzent.»
Er entnahm seiner Brieftasche eine Visitenkarte. Ich las:
L’Atelier Français, Société Anonyme,
Capital de 500 000 Fr., 6, Rue de Cerisolos
Paris 8 e .
Diese Karte beeindruckte mich nicht, ich wurde nur noch mißtrauischer. Der Fremde fuhr fort: «Meine Frau und ich sind die alleinigen Inhaber dieser Firma.» Er sagte dies in einer Tonart, wie Kartenspieler sprechen, ehe sie ihre sehr guten Trümpfe auf den Tisch legen.
«Ich habe die französische Staatsangehörigkeit erhalten, daher mein Namenswechsel. Meine Frau ist eine geborene Französin und besitzt ausgezeichnete Kenntnisse über Filmgeschäfte. Gestatten Sie«, sagte er, «ich habe Ihnen ein paar Kleinigkeiten aus Paris mitgebracht.» Er übergab mir ein kleines Paket.
«Ich werde es erst auspacken, wenn ich weiß, was Sie zu mir führt», sagte ich zurückhaltend.
Der Fremde lehnte sich zurück, und indem er meine Mutter, mich und Hanni, die auch am Tisch saß, betrachtete, sagte er voller Selbstüberzeugung: «Ich hoffe, Ihnen die Freiheit zu bringen und
Ihren ‹Tiefland›-Film zu retten.»
Mein Herz begann zu klopfen, ich sprang auf und verließ das Zimmer. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ich mußte heulen. Keinen Augenblick hatte ich ihm geglaubt. Aber die Vorstellung, daß mir wieder etwas vorgegaukelt würde, woran ich glauben könnte, und daß sich alles wieder in ein «Nichts» auflösen würde, war für mich zuviel.
Meine Mutter versuchte, mich zu beruhigen, und brachte mich zu dem Gast zurück, der über meine Reaktion erschrocken war. Ich entschuldigte mich.
«Ich weiß», sagte Monsieur Desmarais, dessen Name mir damals noch nicht geläufig war. «Sie haben sehr viel mitgemacht, ich weiß, daß man Ihnen alles weggenommen hat und Sie in eine Irrenanstalt steckte, aber hören Sie mir gut zu, Sie werden, so hoffe ich, diese Leidenszeit bald hinter sich haben.»
Wieder kamen mir die Tränen, und schluchzend sagte ich: «Wie wollen Sie das erreichen, niemand konnte mir helfen. Alle meine Bittgesuche, auch die meiner amerikanischen und französischen Freunde blieben unbeantwortet. Das Schlimmste», sagte ich, «ist die Ungewißheit.»
«Meine liebe Frau Jacob, so heißen Sie doch jetzt ...»
Ich schüttelte den Kopf. «Ich heiße wieder Frau Riefenstahl, ich bin
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