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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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meiner Sorgen wieder auf.
    Ich verbrachte qualvolle Ferien. Ich schleppte mich durch die Kastanienwälder und weinte. Ich fühlte mich absolut allein auf der Welt. In diesem Jahr war meine Schwester mir fremd. Meine Eltern hatte ich durch meine provozierend strenge Haltung zur Verzweiflung gebracht; misstrauisch beobachteten sie mich. Sie lasen die Romane, die ich mitgebracht hatte, und tauschten mit Tante Marguerite ihre Ansichten aus: «So etwas ist krankhaft, ist abwegig, solche Bücher sind nicht das Richtige», sagten sie oft; sie verletzten mich dadurch ebenso sehr, wie wenn sie meine Launen kommentierten oder Vermutungen anstellten, was wohl in meinem Kopfe vorging. Da sie mehr Zeit hatten als in Paris, ertrugen sie mein Schweigen mit mehr Ungeduld als je, ich aber machte es nicht besser dadurch, dass ich mich ein- oder zweimal zu heftigen Ausfällen verleiten ließ. Trotz aller Bemühungen fühlte ich mich sehr leicht verletzt. Wenn meine Mutter kopfschüttelnd sagte: «Wirklich, so geht es nicht», raste ich innerlich; dennoch gelang mir irgendein Täuschungsmanöver, sodass sie befriedigt seufzte: «So ist es freilich besser!» Ich aber war auch dann außer mir. Ich hing an meinen Eltern, und hier an dieser Stätte, an der wir früher so harmonisch gelebt hatten, waren mir unsere Missverständnisse noch schmerzlicher als in Paris. Außerdem hatte ich nichts zu tun, da ich mir nur eine kleine Zahl von Büchern hatte beschaffen können. Dank einer Studie über Kant begeisterte ich mich für den kritischen Idealismus, der mich in meiner Absage an Gott bestärkte. In den Theorien Bergsons über das ‹moi social› und das ‹moi profond› erkannte ich voller Enthusiasmus meine eigene Erfahrung wieder. Aber die unpersönlichen Stimmen der Philosophen brachten mir nicht den gleichen Trost wie meine Lieblingsautoren. Ich verspürte um mich her keine brüderliche Gegenwart mehr. Meine einzige Zuflucht war mein Tagebuch; hatte ich aber dort die Öde meines Daseins, meine Traurigkeit noch einmal gründlich durchlebt, fing ich von neuem an, schmerzliche Langeweile zu verspüren.
    Eines Nachts, als ich mich in La Grillère gerade in dem riesigen ländlichen Bett zur Ruhe begeben hatte, überfiel mich jähe Angst: Es war schon vorgekommen, dass ich mich bis zu Tränen und lautem Schreien vor dem Tod gefürchtet hatte; doch diesmal war es noch schlimmer: Auch das Leben drohte bereits ins Nichts zu versinken; nichts existierte eigentlich mehr als nur in diesem Augenblick noch ein derartiges Entsetzen, dass ich nahe daran war, an die Schlafzimmertür meiner Mutter zu klopfen und so zu tun, als sei ich krank, und das nur, um eine Stimme zu hören. Schließlich schlief ich dennoch ein, aber ich behielt von diesem Anfall eine grauenhafte Erinnerung zurück.
    Als ich wieder in Meyrignac war, dachte ich ans Schreiben; ich gab der Literatur den Vorzug vor der Philosophie; es hätte mich keineswegs befriedigt, wenn man mir vorausgesagt hätte, ich werde so etwas wie ein Bergson werden; ich wollte nicht mit einer solchen abstrakten Stimme sprechen, die mich, wenn ich sie hörte, dennoch nicht wirklich berührte. Was ich einmal zu schreiben erträumte, war ein ‹Roman des inneren Lebens›; ich wollte meine eigene Erfahrung weitergeben. Aber ich zögerte noch. Es kam mir vor, als spürte ich in mir eine ‹Menge Dinge, die man sagen müsste›; doch ich war mir darüber klar, dass Schreiben eine Kunst ist und dass ich noch nicht genug davon verstand. Dennoch notierte ich mir mehrere Themen für einen Roman und fasste schließlich einen Entschluss. Ich schrieb mein erstes Werk nieder. Es war die Geschichte einer missglückten Flucht. Die Heldin war so alt wie ich, nämlich achtzehn Jahre; sie verbrachte ihre Ferien unter den Ihren in einem Landhaus, wo noch ein Verlobter erwartet wurde, dem sie auf konventionelle Weise zugetan war. Bis dahin hatte sie sich mit der Banalität des Daseins zufriedengegeben. Plötzlich entdeckte sie ‹etwas anderes›. Ein begabter Musiker offenbarte ihr die wahren Werte: Kunst, Aufrichtigkeit, Unruhe. Sie bemerkte mit einem Mal, dass sie in der Lüge gelebt hatte; ein Fieber brach in ihr aus, ein unbekanntes Verlangen. Der Musiker ging fort. Der Verlobte kam. Zu ihrem Zimmer im ersten Stock drang das vergnügte Stimmengewirr bei seiner Ankunft herauf; sie zögerte: Würde sie retten, was ihr einen Augenblick lang ahnend aufgegangen war? Oder es wieder verlieren? Sie fand keinen Mut. Sie ging die

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