Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
geht’s dich an?» Würde er meine wenn auch sehr maßvollen Auslassungen schon als indiskret empfinden? Würde er selbst verstimmt bei sich murmeln: ‹Was geht’s mich an?›? Sollte hingegen mein Brief für ihn ein wenig Trost bedeuten, wäre es feige gewesen, ihn nicht abzuschicken. Durch die lächerliche Furcht zurückgehalten, die mich in meiner Kinderzeit so oft entscheidend gehemmt hatte, zögerte ich noch immer; aber ich wollte mich ja nicht mehr wie ein Kind aufführen. Rasch setzte ich ein Postskriptum hinzu: ‹Vielleicht findest du mich lächerlich, aber ich würde mich verachten, wenn ich es nie zu sein wagte.› Dann ging ich und warf meinen Brief in den Kasten.
Meine Tante Marguerite und mein Onkel Gaston, die mit ihren Kindern einen Sommer in Cauterets verbrachten, luden meine Schwester und mich ein, ebenfalls hinzukommen. Ein Jahr früher würde ich mit Entzücken das Gebirge entdeckt haben: Jetzt hatte ich mich in mich selbst vergraben, und die äußere Welt berührte mich nicht mehr. Außerdem hatte ich zur Natur zu intime Beziehungen gehabt, um mitansehen zu können, wie sie hier auf das Niveau einer Zerstreuung für Sommerfrischler herabgewürdigt wurde; sie wurde mir in kleinen Portionen vorgeschnitten, ohne dass ich die nötige Muße oder Einsamkeit gehabt hätte, mich ihr wirklich zu nähern: Da ich mich ihr selbst nicht hingab, hatte ich auch nichts von ihr. Tannen und Gießbäche schwiegen. Wir machten einen Ausflug zum Cirque de Gavarnie, zum Lac de Gaube; meine Cousine Jeanne fotografierte alles: Ich selbst sah ringsum nur trübselige Panoramabilder. Ebenso wenig wie die hässlichen Hotels an den Straßen lenkten mich diese zwecklos pompösen Dekorationen von meinem Kummer ab.
Denn Tatsache war, dass ich mich unglücklich fühlte. Garric war mir für immer entschwunden. Und wie stand ich mit Jacques? In meinem Brief hatte ich ihm meine Adresse in Cauterets angegeben; da er bestimmt nicht wünschte, dass seine Antwort in andere Hände als die meinen fiele, würde er mir hierher oder gar nicht schreiben: Er schrieb nicht. Zehnmal am Tage inspizierte ich im Hotel das Fach Nummer sechsundvierzig: nichts. Weshalb? Ich hatte unsere Freundschaft vertrauensvoll und sorglos hingenommen; jetzt aber fragte ich mich: Was bin ich für ihn? Hatte er meinen Brief wohl kindisch gefunden oder unangebracht? Hatte er mich ganz einfach nur vergessen? Welche Qual für mich! Und wie sehr hätte ich gewünscht, sie wenigstens in der Stille allein mit mir abmachen zu können! Aber ich hatte keinen Augenblick Ruhe. Ich schlief im gleichen Zimmer mit Poupette und Jeanne; wir gingen nur in Gruppen aus; den ganzen Tag musste ich mich zusammennehmen, und unaufhörlich drangen fremde Stimmen an mein Ohr. In La Railliere schwatzten die Damen und Herren bei einer Tasse Schokolade des Abends im Hotelsalon; es waren Ferien, sie lasen Bücher und sprachen über ihre Lektüre. Da hieß es dann: «Es ist gut geschrieben, aber es sind doch Längen darin.» Oder aber: «Es sind Längen darin, aber es ist so gut geschrieben.» Manchmal wurde mit geistvoll nuancierter Stimme und träumerischem Blick ein differenzierteres Urteil verkündet: «Ein merkwürdiges Buch», oder in etwas strengem Ton: «Eigenartig, wirklich sehr eigenartig.» Ich wartete die Nacht ab, um zu weinen; am folgenden Tage war der Brief noch nicht da; von neuem sah ich dem Abend mit gespannten Nerven und einem Stachel im Herzen entgegen. Eines Morgens brach ich in meinem Zimmer in Tränen aus; ich weiß nicht mehr, wie ich meine arme Tante beruhigt habe; sie war völlig ratlos.
Bevor wir nach Meyrignac zurückkehrten, blieben wir zwei Tage in Lourdes. Es war ein Schock für mich. Sterbende, Kranke, Kropfgeplagte: Angesichts dieser Parade des Grauens wurde mir jäh bewusst, dass die Welt kein bloßer Seelenzustand ist. Die Menschen hatten Körper und litten in ihnen. Während ich unempfindlich gegen das Plappern der Litaneien und den säuerlichen Geruch der verzückten Frommen an einer Prozession teilnahm, schämte ich mich meiner Nachgiebigkeit mir selbst gegenüber. Wahr blieb allein das dichtgehäufte Elend hier. Ich beneidete fast Zaza, die während der Pilgersaison das Geschirr der Kranken wusch. Sich aufopfern, sich vergessen! Aber wie? Und wofür? Das Unglück, das mit grotesken Hoffnungen getarnte Unglück hier war allzu sinnlos, um mir darüber Einsichten zu schenken. Ich schmachtete ein paar Tage in Grauen dahin; dann nahm ich den alten Faden
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