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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gab ihm die entliehenen Bücher zurück, er borgte mir andere; er las mir aus Mallarmé, Laforgue, Francis Jammes, Max Jacob vor. «Du willst sie wohl in die moderne Literatur einführen?», hatte mein Vater ihn in halb ironischem, halb irritiertem Ton gefragt. «Nichts könnte mir größeres Vergnügen machen», hatte Jacques erwidert. Er nahm seine Aufgabe ernst. «Immerhin hast du durch mich viele schöne Dinge kennengelernt», sagte er manchmal nicht ohne Stolz. Er beriet mich übrigens mit viel Diskretion. «Das ist fein, dass
Aimée
dir gefällt!», sagte er, als ich ihm den Roman von Jacques Rivière zurückbrachte; selten ließen wir uns auf weitere Kommentare ein; er hatte es nicht gern, wenn man sich zu breit über etwas äußerte. Oft, wenn ich ihn um eine Erklärung bat, lächelte er und zitierte Cocteau: «Das ist wie mit Eisenbahnunfällen: Man muss es spüren, erklären kann man es nicht.» Wenn er mich ins ‹Studio des Ursulines› schickte, um dort – nachmittags, mit meiner Mutter zusammen – einen avantgardistischen Film anzuschauen, oder ins ‹Atelier›, um die letzte Inszenierung von Dullin zu sehen, sagte er gewöhnlich nur: «Das sollte man sich nicht entgehen lassen.» Manchmal beschrieb er mir eingehend ein Detail: ein von der Ecke her einfallendes gelbes Licht auf einem Bild oder auf der Leinwand im Kino eine Hand, die sich auftut; gleichzeitig ehrfurchtsvoll und amüsiert, konnte er einen nur durch seinen Tonfall Unendliches ahnen lassen. Er gab mir gleichwohl wertvolle Hinweise, wie man ein Bild von Picasso zu sehen hätte; er setzte mich in höchstes Staunen, weil er einen Braque oder Matisse identifizieren konnte, ohne nach der Signatur zu sehen: Das kam mir vor wie Zauberei. Ich war von so viel Neuem überwältigt, dass er mir offenbarte, dass ich immer halb und halb den Eindruck hatte, er selbst habe alles hervorgebracht. Mehr oder weniger sah ich in ihm den Schöpfer von Cocteaus
Orphée
, Picassos
Harlekinen
und René Clairs
Entr’acte
.
    Was tat er in Wirklichkeit? Welche Pläne, welche Sorgen bewegten ihn? Er arbeitete nicht eben viel. Gern raste er des Nachts mit dem Auto durch Paris; er besuchte gelegentlich die Bierlokale im Quartier Latin, die Bars in Montparnasse; er stellte mir diese Bars als fabelhafte Stätten hin, in denen sich stets etwas zuträgt. Aber er war nicht sehr zufrieden mit seiner Existenz. Während er in der Galerie seines Hauses auf und ab ging und in seinen schönen goldbraunen Locken wühlte, vertraute er mir lächelnd an: «Es ist schrecklich, dass ich so kompliziert bin! Ich verliere mich in meiner eigenen Kompliziertheit!» Einmal bemerkte er ohne jeden Versuch zur Heiterkeit: «Weißt du, was mir nottäte, wäre, an irgendetwas zu glauben!» – «Genügt es nicht zu leben?», fragte ich; ich selbst glaubte an das Leben. Er schüttelte den Kopf: «Es ist nicht leicht zu leben, wenn man an nichts glaubt.» Dann gab er dem Gespräch eine andere Wendung; er enthüllte sich immer nur augenblicksweise, und ich insistierte auch nicht. Wenn ich mit Zaza sprach, rührten unsere Unterhaltungen nie an das Wesentliche; wenn ich ihm mit Jacques zusammen schon eher einmal näherkam, schien es mir doch normal, dass es nur auf die allerdiskreteste Weise geschah. Ich wusste, dass er einen Freund hatte, Lucien Riaucourt, den Sohn eines bedeutenden Lyoner Bankiers, mit dem er ganze Nächte im Gespräch verbrachte; sie begleiteten einander vom Boulevard Montparnasse zur Rue de Beaune immer wieder hin und zurück, und manchmal blieb Riaucourt schließlich da und kampierte auf dem roten Sofa. Dieser junge Mann war Cocteau begegnet und hatte Dullin den Entwurf eines Stückes anvertraut. Er hatte eine Gedichtsammlung veröffentlicht, zu der Jacques einen Holzschnitt als Illustration beigesteuert hatte. Ich beugte mich vor so viel Überlegenheit. Ich selbst schätzte mich schon sehr glücklich, dass Jacques mir einen Platz am Rande seines Daseins gönnte. Im Allgemeinen hatte er nicht sehr viel Sympathie für Frauen, sagte er; er liebte seine Schwester, fand sie aber zu sentimental; es war wirklich ungewöhnlich, dass Mann und Frau so miteinander reden konnten, wie wir beide es taten.
    Von Zeit zu Zeit sprach ich mit ihm von mir selbst, und er erteilte mir Rat. «Versuche, nach außen glasklar zu erscheinen», sagte er. Er meinte auch, man müsse sich mit den alltäglichen Dingen des Lebens abfinden, und zitierte Verlaine: ‹La vie humble, aux travaux ennuyeux et

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