Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
faciles.› Ich war darin nicht ganz der gleichen Meinung wie er: Worauf es mir aber ankam, war, dass er mich anhörte, mich verstand und mich aus meinen gelegentlichen Verlassenheitskrisen rettete.
Ich glaube, er hätte sich nichts Besseres gewünscht, als mich noch enger mit seinem Leben zu verknüpfen. Er zeigte mir Briefe seiner Freunde und hätte sie gern mit mir bekannt gemacht. Eines Nachmittags begleitete ich ihn nach Longchamp zu den Rennen. Ein andermal schlug er mir vor, zusammen mit ihm das Russische Ballett anzusehen. Meine Mutter lehnte entschieden ab: «Simone geht abends nicht allein aus.» Nicht, dass sie an meiner Tugend zweifelte; vor dem Abendessen konnte ich ganze Stunden allein in Jacques’ Wohnung verbringen; aber hinterher war jede Stätte, wofern sie nicht durch die Anwesenheit meiner Eltern gleichsam exorzisiert wurde, ein verrufener Ort. Unsere Freundschaft beschränkte sich also auf den Austausch unvollendeter, von langen Pausen durchsetzter Betrachtungen und gelegentliches Vorlesen.
Das Semester ging zu Ende. Ich machte mein Examen in Mathematik, darauf in Latein. Es war angenehm, rasch voranzukommen und erfolgreich zu sein: Aber entschieden verspürte ich keine Leidenschaft für die exakten Wissenschaften noch für tote Sprachen. Mademoiselle Lambert riet mir, auf meinen ersten Plan zurückzugreifen; sie selbst hielt in Sainte-Marie die Philosophievorlesungen ab: Sie werde glücklich sein, mich dort zur Schülerin zu haben; sie versicherte mir, dass ich ohne Mühe das Staatsexamen machen werde. Meine Eltern legten mir nichts in den Weg. Ich war sehr befriedigt von diesem Entschluss.
Obwohl Garrics Gestalt während der letzten Wochen etwas verblasst war, fühlte ich mich doch todtraurig, als ich in einem tristen Korridor des Instituts Sainte-Marie von ihm Abschied nahm. Einmal würde ich ihn noch anhören: In einem Saal am Boulevard Saint-Germain hielt er einen Vortrag, an dem Henri Massis und Monsieur Mabille teilnahmen. Dieser sprach als Letzter: Die Worte drangen nur gehemmt unter seinem Bart hervor, und Zazas Wangen waren rot vor Verlegenheit, solange er redete. Ich verschlang Garric mit den Augen; obwohl ich den erstaunten Blick meiner Mutter auf mir ruhen fühlte, machte ich keinen Versuch, mich etwa zu beherrschen. Ich lernte dieses Gesicht auswendig, das für mich auf immer verlöschen sollte. Eine Gegenwart ist etwas so unerhört Umfassendes, Abwesenheit etwas derart Radikales: Zwischen diesen beiden ist kein Übergang denkbar. Monsieur Mabille schwieg, die Redner verließen die Tribüne: Es war aus.
Ich klammerte mich noch immer an das Gewesene an. Eines Morgens nahm ich die Metro und fuhr in eine unbekannte, derart entlegene Gegend, dass es mir vorkam, als hätte ich unversehens eine Grenze überschritten: nach Belleville. Ich ging die große Straße hinauf, in der Garric wohnte; seine Hausnummer war mir bekannt; ich drückte mich das letzte Ende an den Häusern entlang, denn ich war sicher, falls er mich plötzlich entdeckte, vor Scham in Ohnmacht zu sinken. Einen Augenblick blieb ich vor seinem Hause stehen, ich betrachtete die trübselige Ziegelsteinfassade und die Tür, die er täglich morgens und abends durchschritt; ich sah mir die Kaufhäuser, die Cafés, den Platz, der dazwischen lag, an; er kannte sicher das alles so gut, dass er es gar nicht mehr sah. Was suchte ich eigentlich hier? Auf alle Fälle kehrte ich ohne Ertrag zurück.
Jacques würde ich sicherlich im Oktober wieder treffen, ich sagte ihm daher ohne Kummer Lebewohl. Er war in seinem juristischen Examen durchgefallen und daraufhin etwas niedergeschlagen. In seinen letzten Händedruck, sein letztes Lächeln legte er eine solche Wärme, dass ich ganz ergriffen war. Nachdem ich ihn verlassen hatte, fragte ich mich ängstlich, ob er meine Gelassenheit nicht für Gleichgültigkeit halte. Diese Vorstellung schmerzte mich. Er hatte mir so viel gegeben! Ich dachte dabei weniger an Bücher, Bilder und Filme als vielmehr an den zärtlichen Schimmer in seinen Augen, wenn ich zu ihm von mir sprach. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, ihm dafür zu danken, und schrieb ihm in einem Zuge einen kleinen Brief. Aber meine Feder stockte, als ich ihn adressieren wollte. Jacques schätzte Zurückhaltung mehr als alles. Mit seinem Lächeln, das so oft einen geheimnisvollen Nebensinn zu verbergen schien, hatte er mir in der Fassung, die Cocteau ihm gegeben hat, das Goethewort zitiert: «Wenn ich dich lieb habe, was
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