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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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des ‹Jockey› traf ich eines Abends alte Bekannte, mit denen ich mich an die heiteren Stunden des vergangenen Sommers zurückerinnerte; ein kleiner Schweizer Student, der ebenfalls Stammgast in der Bibliothèque Nationale war, machte mir eifrig den Hof. Ich trank und amüsierte mich. Später in der Nacht fragte mich ein junger Mediziner, der unser Trio mit kritischem Auge betrachtet hatte, ob ich hierherkäme, um Sittenstudien zu treiben. Als meine Schwester kurz nach Mitternacht wegging, beglückwünschte er mich, dass sie so vernünftig sei, bemerkte aber etwas tadelnd zu mir, Gégé sei noch zu jung, um sich in solchen Dancings herumzutreiben. Gegen ein Uhr schlug er vor, er wolle uns in einem Taxi nach Hause bringen; wir lieferten erst Gégé an ihrer Wohnung ab, dann amüsierte er sich sichtlich über meine Befangenheit während des letzten Teils unserer Fahrt, den ich allein mit ihm zurücklegen musste. Sein Interesse schmeichelte mir. Eine Begegnung, ein unvorhergesehener Zwischenfall genügten, um mir meine gute Laune wieder zurückzugeben. Das Vergnügen, das ich an diesen geringfügigen Abenteuern fand, erklärte gleichwohl nicht, dass ich von neuem der Verlockung solcher fragwürdiger Stätten erlag. Ich selbst war darüber erstaunt. ‹Jazz, Frauen, Tanz, zweideutige Reden, Alkohol, der enge Kontakt mit Fremden: Wie kommt es, dass ich mich dadurch nicht schockiert fühle, sondern mich hier mit etwas abfinde, was ich mir sonst nirgends gefallen ließe, und mit allen diesen Männern scherze? Wie kommt es, dass ich mit einer Leidenschaft, die von so fern zu mir gekommen ist und mich so stark in ihren Banden hält, diese Dinge liebe? Was suche ich an diesen Orten von so fragwürdigem Reiz?›
    Ein paar Tage später trank ich Tee bei Mademoiselle Roulin, wo ich mich beträchtlich langweilte. Als ich sie verließ, ging ich ins ‹Européen›; für vier Franc erwarb ich einen Balkonplatz, an dem ich zwischen ungekämmten Frauen und verkommenen jungen Burschen saß; Paare umschlangen und küssten einander; schwer parfümierte Straßenmädchen gerieten außer sich, wenn sie den überschicken Sänger hörten, und grobes Lachen unterstrich die mehr als fragwürdigen Späße. Auch ich geriet in Bewegung, lachte und fühlte mich wohl. Warum? Lange strich ich noch am Boulevard Barbès umher und betrachtete die Straßenmädchen und Strichjungen nicht mehr mit Grauen, sondern mit etwas wie Neid. Von neuem staunte ich: ‹Es besteht in mir ein immer schon vorhandenes monströses Verlangen nach Lärm, nach Kampf, nach Wildheit und vor allem nach Versinken … Was würde heute noch fehlen, damit ich zu einer Morphinistin, Alkoholikerin oder sonst etwas würde? Vielleicht nur eine Gelegenheit, ein noch etwas stärker anwachsender Hunger nach allem, was ich niemals kennenlernen werde …› Zuweilen war ich entsetzt über diese ‹Perversion›, über die ‹niederen Instinkte›, die ich in mir entdeckte. Was hätte Pradelle gesagt, der mich manchmal beschuldigte, ich traute dem Leben allzu viel Noblesse zu? Ich warf mir vor, doppelzüngig, eine Heuchlerin zu sein. Aber ich dachte nicht daran, mich selber zu verleugnen: ‹Ich will das Leben, das ganze Leben. Ich fühle mich voller Neugier, voll Gier, glühender zu brennen als irgendeine andere, von welcher Flamme auch immer es sei.›
    Ich war haarscharf daran, mir selbst die Wahrheit einzugestehen: dass ich nämlich genug davon hatte, ein reiner Geist zu sein. Nicht Verlangen quälte mich wie damals vor dem Erwachen der Pubertät. Aber ich erriet dunkel, dass heftiges körperliches Verlangen in seiner nackten Rohheit mich vor der ätherischen Farblosigkeit gerettet hätte, in der ich langsam verschmachtete. Es war keine Rede davon, dass ich etwa auf diesem Gebiet selbst Erfahrungen machte. Sowohl meine Gefühle für Jacques wie meine Vorurteile verboten es mir durchaus. Immer freimütiger verabscheute ich den Katholizismus. Wenn Lisa und Zaza sich gegen diese ‹Religion, die einen zum Märtyrer macht›, auflehnten, freute ich mich, ihr entronnen zu sein; tatsächlich jedoch blieb ich von ihr gezeichnet; die sexuellen Tabus lebten auch weiter so sehr in mir fort, dass ich wohl behauptete, ich könne Morphinistin oder Alkoholikerin werden, aber auch nicht im Entferntesten an geschlechtliche Ausschweifungen dachte. Als ich Goethe und das Buch von Emil Ludwig über ihn las, empörte ich mich gegen seine Moral. ‹Dass er in aller Seelenruhe, ohne Aufruhr, ohne Unruhe

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