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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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dem Leben der Sinne einen festen Platz einräumt, empört mich. Die schlimmste Debauche, wofern es die eines Gide, der Nahrung für seinen Geist braucht, eine Verteidigung, eine Provokation ist, stößt auf Verständnis bei mir; Goethes Liebeleien hingegen verletzen mich.› Entweder bildete die körperliche Liebe einen integrierenden Teil der Liebe schlechthin, dann verstand sich alles von selbst; oder aber sie war ein tragisches Versagen, dann hatte ich nicht den Mut, in ihr unterzugehen.
     
    Entschieden unterlag ich sehr dem Einfluss der Jahreszeiten. In diesem Jahr noch entfaltete ich mich beim ersten Frühlingshauch, ich atmete fröhlich den Geruch von heißem Teer in mich ein. Ich gönnte mir keine Muße, der ‹Concours› stand nahe bevor, und ich hatte noch eine Menge Lücken auszufüllen; aber die Müdigkeit zwang mir Ruhepausen auf, und ich nutzte sie. Ich ging mit meiner Schwester an den Ufern der Marne spazieren und fand von neuem Vergnügen an Plaudereien mit Pradelle unter den Kastanien des Luxembourggartens; ich kaufte mir einen kleinen roten Hut, den Stépha und Fernando belächelten. Ich führte meine Eltern ins ‹Européen›, und mein Vater lud mich zu einem Eisbecher auf der Terrasse von Wepler ein. Meine Mutter begleitete mich häufig ins Kino, im Moulin-Rouge sah ich mit ihr
Barbette
, verstand aber nicht, dass Jean Cocteau die Vorführung so hervorragend fand. Zaza kam aus Bayonne zurück. Wir besuchten im Louvre die neuen Säle der französischen Malerei. Monet liebte ich nicht, Renoir schätzte ich mit Vorbehalt, bewunderte aber Manet und über die Maßen Cézanne, weil ich in seinen Bildern ‹das Niedersteigen des Geistes in das Herz der Empfänglichen› sah. Zaza teilte ungefähr meine Neigungen. Ohne allzu viel Missbehagen wohnte ich der Hochzeit ihrer Schwester bei.
    Während der Osterferien verbrachte ich alle meine Tage in der Nationale; ich begegnete dort Clairaut, den ich etwas pedantisch fand, an dessen Wesen ich jedoch weiter herumrätselte; hatte dieser dürre, schwarze kleine Mann wirklich unter der ‹tragischen Herrschaft› des Leibes gelitten? Auf alle Fälle war ich gewiss, dass diese Frage ihm sehr viel zu schaffen machte. Mehrmals brachte er das Gespräch auf den Artikel von Mauriac. Welches Maß an Sinnlichkeit durften christliche Ehegatten einander zugestehen? Und welches nur erst Verlobte? Eines Tages legte er diese Frage Zaza vor, die in Zorn geriet. «Das sind Probleme für alte Jungfern und Pfarrer!», antwortete sie ihm. Ein paar Tage darauf erzählte er mir, dass er persönlich ein schmerzliches Erlebnis hinter sich habe. Zu Anfang des Studienjahres hatte er sich mit der Schwester eines seiner Studienkameraden verlobt; sie bewunderte ihn unendlich und war eine leidenschaftliche Natur: Wenn er nicht aufgepasst hätte, wäre dieses Temperament mit ihnen durchgegangen; er hatte ihr erklärt, sie müssten sich für ihre Hochzeitsnacht aufbewahren und bis dahin nur die keuschen Küsse tauschen, die ihnen gestattet seien. Sie hatte eigensinnig dabei beharrt, ihm ihre Lippen darzubieten, und er sich weiter geweigert; schließlich hatte sie aufbegehrt und mit ihm gebrochen. Offensichtlich ging diese Niederlage ihm nach. Mit einer Art von manischer Besessenheit erging er sich über die Ehe, die Liebe und die Frauen. Ich fand die ganze Geschichte, die mich an die von Suzanne Boigue erinnerte, eher lächerlich, doch fühlte ich mich geschmeichelt, dass er mir sein Vertrauen schenkte.
    Die Osterferien gingen zu Ende; in den Gärten der École Normale, in denen Flieder, Goldregen und Rotdorn in voller Blüte standen, fand ich mit Vergnügen wieder alle meine Studiengefährten vor. Ich kannte sie fast sämtlich. Hermetisch verschlossen blieb mir einzig der aus Sartre, Nizan und Herbaud bestehende Kreis; sie verkehrten mit niemandem, erschienen nur bei einigen ausgewählten Vorlesungen und saßen dann völlig abseits von den anderen. Sie hatten einen schlechten Ruf. Es hieß, es fehle ihnen an ‹Sympathie für die Dinge›. Betont ‹antitala›, gehörten sie zu einer vorwiegend aus ehemaligen Alain-Schülern bestehenden Gruppe, die für rohe Streiche bekannt war: Ihre Mitglieder warfen Wasserbomben auf elegante ‹Normaliens›, die nachts im Smoking nach Hause kamen. Nizan war verheiratet und viel gereist, er trug gern Golfhosen, und ich fand, sein Blick hinter der dicken Hornbrille habe etwas Einschüchterndes. Sartre sah nicht übel aus, aber es hieß von ihm, er sei

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