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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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noch hinzugesetzt: «Erziehen Sie Simone, wie Sie wollen. Ich habe andere Grundsätze.» Sie hatte sich über meinen Einfluss auf ihre Tochter beklagt und zum Schluss befriedigt festgestellt: «Gott sei Dank hängt Zaza sehr an mir.»
     
    Ganz Paris hatte in jenem Winter die Grippe, und ich lag zu Bett, als Zaza nach Hause kam; an meinem Bettrand sitzend, beschrieb sie mir Berlin, die Oper, die Konzerte, die Museen. Sie war etwas stärker geworden und hatte mehr Farbe bekommen: Stépha und Pradelle waren wie ich über diese Metamorphose ganz erstaunt. Ich sagte ihr, im Oktober habe ihre Zurückhaltung mich etwas beunruhigt: Sie versicherte mir fröhlich, sie habe sich völlig gehäutet. Nicht nur hatten sich viele ihrer Ideen gewandelt, sondern anstatt über den Tod nachzudenken und nach dem Klosterleben zu verlangen, strömte sie jetzt förmlich über von Vitalität. Sie hoffte, die Tatsache, dass ihre Schwester das Haus verließe, werde ihr Dasein beträchtlich erleichtern. Indessen beklagte sie Lilis Los: «Das ist deine letzte Chance», hatte Madame Mabille erklärt. Lili hatte alle ihre Freundinnen um Rat gefragt. «Nimm an», hatten ihr die resignierten jungverheirateten Frauen und die Unverheirateten, die selbst gern einen Mann gehabt hätten, angeraten. Zaza fühlte sich bedrückt, wenn sie die Gespräche zwischen den beiden Verlobten anhörte. Ohne allzu sehr zu wissen, warum, war sie jetzt gewiss, dass ein solches Geschick ihr jedenfalls nicht drohe. Für den Augenblick hatte sie vor, ernsthaft Violinunterricht zu nehmen, viel zu lesen und sich zu bilden; sie plante die Übersetzung eines Romans von Stefan Zweig. Ihre Mutter wagte ihr nicht die Freiheit allzu brutal wieder zu entziehen; sie gab ihr die Erlaubnis, zwei- oder dreimal abends mit mir zusammen auszugehen. Wir hörten
Fürst Igor
, aufgeführt von der russischen Oper. Wir sahen den ersten Film von Al Jolson,
Sonny Boy
, und eine von der Gruppe ‹L’Effort› organisierte Veranstaltung, bei der Filme von Germaine Dulac gezeigt wurden: Hinterher fand eine angeregte Debatte über Stummfilm und Tonfilm statt. Oft am Nachmittag, während ich in der Bibliothèque Nationale arbeitete, fühlte ich auf meiner Schulter eine behandschuhte Hand; unter ihrer Glocke aus rosa Filz lächelte Zaza mir zu, und wir gingen einen Kaffee trinken oder machten einen kleinen Spaziergang. Leider musste sie nach Bayonne, wo sie vier Wochen lang einer kranken Cousine Gesellschaft leistete.
    Sie fehlte mir sehr. Die Zeitungen behaupteten, dass seit fünfzehn Jahren Paris keine so strenge Kälte gekannt habe; die Seine führte Packeis mit sich; ich ging nicht mehr spazieren und arbeitete zu viel. Ich erledigte die Arbeit für mein Diplom; für einen Professor namens Laporte verfasste ich eine Dissertation über Hume und Kant; von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends saß ich wie gebannt auf meinem Stuhl in der Nationale; kaum nahm ich mir einmal eine halbe Stunde Zeit, um ein Butterbrot zu essen; am Nachmittag kam es vor, dass ich vor mich hin döste, und manchmal schlief ich wirklich ein. Am Abend zu Hause versuchte ich zu lesen: Goethe, Cervantes, Tschechow, Strindberg; aber ich litt an Kopfweh. Vor Müdigkeit hätte ich manchmal weinen mögen. Die Philosophie jedoch in der Form, wie sie an der Sorbonne gepflegt wurde, hatte entschieden nichts Tröstliches. Bréhier hielt über die Stoiker eine ausgezeichnete Übung ab; aber Brunschvicg wiederholte sich; Laporte zerpflückte alle Systeme außer dem von Hume. Er war der jüngste unserer Professoren, trug ein Schnurrbärtchen und weiße Gamaschen und stieg auf der Straße den Frauen nach: Eines Tages hatte er aus Versehen eine seiner Hörerinnen angesprochen. Er gab mir meine Dissertation mit einer passablen Note und ironischen Kommentaren zurück: Ich hatte Kant über Hume gestellt. Er ließ mich in seine schöne Wohnung in der Avenue Bosquet kommen, um mit mir über meine Arbeit zu sprechen. «Große Qualitäten, aber sehr unsympathisch. Ein dunkler Stil, falsche Tiefe: Was hat man denn schon groß in der Philosophie zu sagen!» Er urteilte alle seine Kollegen ab, insbesondere Brunschvicg; dann ging er in aller Eile die alten Meister durch. Die Philosophen des Altertums? Esel. Spinoza? Ein Monstrum. Kant? Ein Betrüger. Blieb einzig Hume. Ich warf ein, dass Hume keines der praktischen Probleme löse; er zuckte die Achseln: «Die Praxis stellt keine Probleme.» Nein. Man durfte in der Philosophie nur eine Zerstreuung

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