Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
er aber zwang mich mit großer Autorität, auch noch Erdbeertörtchen hinterherzuessen. Eines Tages lud er mich in die ‹Fleur de Lys› an der Square Louvois zu einer Mahlzeit ein, die mir sehr üppig vorkam. Wir gingen in den Gärten des Palais-Royal spazieren, wir setzten uns an den Rand des Wasserbeckens; der Wind bog den Wasserstrahl um, sodass die Tropfen mir ins Gesicht sprühten. Ich schlug vor, wir wollten zurück und an unsere Arbeit gehen. «Trinken wir erst noch einen Kaffee, sonst können Sie nicht richtig studieren, werden unruhig und stören mich beim Lesen.» Er führte mich zu ‹Poccardi›, und als ich nach der letzten Tasse aufstand, bemerkte er in liebevollem Ton: «Wie schade!» Er war der Sohn eines Lehrers aus der Umgegend von Toulouse und nach Paris gekommen, um sich auf die École Normale vorzubereiten. Als ‹hypokhâgne› hatte er die Bekanntschaft von Sartre und Nizan gemacht, er sprach zu mir viel von ihnen; er bewunderte Nizan wegen seiner lässigen Distinktion, war aber besonders mit Sartre befreundet, von dem er sagte, er sei fabelhaft interessant. Unsere anderen Mitstudierenden verachtete er en bloc und en détail. Clairaut hielt er für einen kleinen Schulmeister, er grüßte ihn nie. Eines Nachmittags trat Clairaut mit einem Buch in der Hand zu mir: «Mademoiselle de Beauvoir», fragte er mich in seinem inquisitorischen Ton, «was halten Sie von der Meinung Brochards, wonach der Gott des Aristoteles Lust empfindet?» Herbaud maß ihn mit dem Blick. «Ich hoffe es für ihn», gab er statt meiner hochmütig zurück. In der ersten Zeit plauderten wir vor allem von der kleinen Welt, die uns gemeinsam war, unseren Kameraden, unseren Professoren, dem ‹Concours›. Er zitierte mir das Thema einer Doktorarbeit, über das die ‹Normaliens› sich von einer Generation zur anderen amüsierten: ‹Unterschied zwischen der Idee des Begriffs und dem Begriff der Idee›. Er erfand auch noch andere: ‹Welchen von den Verfassern von Studienprogrammen ziehen Sie vor und weshalb?› oder ‹Seele und Leib: Ähnlichkeiten, Verschiedenheiten, Vorteile, Nachteile›. In Wirklichkeit unterhielt er zur Sorbonne und École Normale nur ziemlich lose Beziehungen; sein Leben war anderswo. Er sprach auch darüber dann und wann zu mir. Er erzählte mir von seiner Frau, die in seinen Augen alle Paradoxen der Weiblichkeit verkörperte, von Rom, wohin er seine Hochzeitsreise gemacht hatte, von dem Buch, das er schreiben wollte. Er brachte mir Hefte wie
Détective
und
L’Auto
; er konnte sich leidenschaftlich für ein Radrennen oder für ein kriminalistisches Problem interessieren; er überschüttete mich mit Witzen, mit überraschenden Vergleichen. Er verstand mit solchem Geschick, mit Emphase und Nüchternheit, Lyrismus und Zynismus, Naivität und Unverschämtheit umzugehen, dass nichts von dem, was er sagte, jemals banal erschien. Das Unwiderstehlichste an ihm war jedoch sein Lachen; man hätte meinen können, er sei unversehens auf einem fremden Planeten gelandet, dessen fabelhafte Komik er nach und nach entdeckte; wenn sein Lachen explodierte, kam mir alles neu, überraschend und köstlich vor.
    Herbaud glich meinen anderen Freunden nicht; diese hatten so vernunftgeprägte Gesichter, dass sie fast unstofflich wirkten. Jacques’ Kopf allerdings hatte nichts Seraphisches, doch eine gewisse bürgerliche Glätte überdeckte die exuberante Sinnlichkeit seiner Züge. Es war unmöglich, Herbauds Gesicht auf ein Symbol zurückzuführen; der vorgeschobene Unterkiefer, das breite feuchte Lächeln, die blaue Iris, die von einer schimmernden Hornhaut umgeben war, Fleisch, Knochen, Haut waren sehr eindrucksvoll da und genügten sich selbst. Im Übrigen war Herbaud körperbewusst. Unter den grünenden Bäumen sagte er mir, wie sehr er den Tod verabscheue und dass er niemals in Krankheit und Alter willigen werde. Wie stolz verspürte er in seinen Gliedern das frische Pulsen seines Blutes! Ich sah ihn, wie er den Garten mit etwas gezierter Anmut durchmaß, ich schaute seine Ohren an, die in der Sonne durchsichtig wie rosiger Zucker wirkten, und wusste, dass ich nicht neben einem Engel, sondern einem Sohn der Menschen einherschritt. Ich war der Engelhaftigkeit müde und freute mich, dass er mich – wie einzig Stépha es bisher getan hatte – als irdisches Geschöpf behandelte. Denn seine Sympathie wendete sich nicht an meine Seele; sie wog nicht meine Verdienste ab: Spontan und freiwillig gewährt, akzeptierte sie

Weitere Kostenlose Bücher