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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mit Formfragen ab: Ich fragte die Leute, was ‚man tut‘ oder ‚nicht tut‘. Sie haben nur gelächelt und mir zur Antwort gegeben: ‚Jeder tut einfach, was er will.‘ Ich habe mir diese Lektion zunutze gemacht. Jetzt treibe ich es schlimmer als eine polnische Studentin; ich gehe zu jeder Stunde des Tages oder des Nachts allein aus, verabrede mich mit Hans Miller ins Konzert und spaziere noch bis ein Uhr morgens mit ihm in den Straßen herum. Er scheint das derart natürlich zu finden, dass es mir fast peinlich ist, wenn ich selbst mich noch darüber wundere.› Auch ihre Ideen wandelten sich, ihr Chauvinismus schwand. ‹Was mich hier am meisten verblüfft, ist der Pazifismus, ja sogar noch viel mehr die Franzosenfreundlichkeit aller dieser Deutschen im Allgemeinen. Neulich im Kino habe ich einen Film mit ausgesprochen pazifistischer Tendenz gesehen, der dem Publikum das Grauen des Krieges vor Augen führte: Alles hat Beifall geklatscht. Offenbar hat hier voriges Jahr, als mit Bombenerfolg ein Napoleon-Film gespielt wurde, das Orchester die Marseillaise gespielt. Im Ufa-Palast haben die Leute sogar derart applaudiert, dass sie unter allgemeinen Ovationen dreimal wiederholt wurde. Ich wäre höchst erstaunt gewesen, wenn mir jemand, bevor ich Paris verließ, gesagt hätte, ich würde ganz unbefangen mit einem Deutschen vom Kriege sprechen können; neulich aber hat mir Hans Miller von seiner Zeit als Kriegsgefangener erzählt und mit den Worten geschlossen: ‚Vielleicht waren Sie damals noch zu klein, um sich zu erinnern, aber diese Zeiten waren schlimm auf beiden Seiten, so etwas darf nie wieder vorkommen!‘ Ein anderes Mal, als ich zu ihm von
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sprach und meinte, das Buch würde ihn interessieren, hat er mir gesagt – es klang aber im Deutschen sogar noch eindeutiger –: ‚Ist es ein politisches oder ein menschliches Buch? Wir haben jetzt genug von Nationen, von Rassen gehört, man sollte uns lieber etwas vom Menschen schlechthin erzählen.‘ Ich glaube, dass Ideen dieser Art in der deutschen Jugend sehr verbreitet sind.›
    Hans Miller verbrachte eine Woche in Paris; er ging mit Stépha aus und erzählte ihr, dass ihre Freundin sich seit ihrer Ankunft in Berlin stark verändert habe; als er bei den Mabilles war, die ihn kühl empfingen, wunderte er sich über den weiten Abstand zwischen Zaza und ihrer übrigen Familie. Auch sie freilich wurde sich dessen immer mehr bewusst. Sie schrieb mir, sie habe vor Glück geschluchzt, als sie am Abteilfenster das Gesicht ihrer Mutter erkannt habe, die sie in Berlin besuchen kam; dennoch erschreckte sie die Vorstellung, dass sie wieder nach Hause zurückkehren müsse. Lili hatte endlich ihre Hand einem Zögling der École Polytechnique gereicht, und nach dem Bericht Hans Millers stand das ganze Haus auf dem Kopf. ‹Ich spüre, dass zu Hause alle schon nur noch an Heiratsanzeigen, einlaufende Glückwünsche, Geschenke, die Eheringe, die Ausstattung, die Farbe der Kleider für die Brautjungfern (ich hoffe, ich habe nichts ausgelassen) denken; dieses Drunter und Drüber von lauter konventionellen Angelegenheiten macht mir keine große Lust, wieder nach Hause zu kommen, ich bin ja alle diese Dinge so gar nicht mehr gewohnt! Ich führe wirklich ein schönes, interessantes Leben … Wenn ich an die Heimkehr denke, stelle ich mir vor allem die große Freude vor, Sie wiederzusehen. Aber ich muss Ihnen gestehen, dass ich bei dem Gedanken erschrecke, meine Existenz von vor drei Monaten wiederaufnehmen zu müssen. Der sehr respektable Formalismus, von dem die meisten Leute ‚unserer Kreise‘ leben, ist mir unerträglich geworden, zumal, wenn ich an die nicht sehr fern liegende Epoche denke, zu der ich, ohne es zu wissen, selbst ganz davon durchdrungen war, und mir angstvoll ausmale, dass ich bei der Rückkehr in den alten Rahmen diesem Geist am Ende wieder erliege.›
    Ich weiß nicht, ob Madame Mabille sich klar darüber war, dass dieser Aufenthalt in Berlin nicht das Resultat gezeitigt hatte, das von ihr damit bezweckt worden war: Auf alle Fälle rüstete sie sich, ihre Tochter wieder fest in die Hand zu bekommen. Als sie einmal meine Mutter bei einer Abendveranstaltung traf, die sie Poupette zuliebe besuchte, hatte sie sich ihr gegenüber sehr streng geäußert. Als meine Mutter den Namen Stépha aussprach, hatte sie gesagt: «Ich kenne keine Stépha, ich kenne nur ein Fräulein Awdikowitsch, die Erzieherin bei meinen Kindern war.» Sie hatte

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