Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
sehen und hatte das Recht, ihr andere vorzuziehen. «Alles in allem würde es sich also nur um eine Konvention handeln?», wagte ich zu unterstellen. «O nein, Mademoiselle, diesmal übertreiben Sie», sagte er mir in unerwartet empörtem Ton. «Ich weiß», setzte er hinzu, «der Skeptizismus ist nicht mehr in Mode. Sicherlich nicht; gehen Sie also und suchen Sie sich eine optimistischere Lehre, als die meine es ist.» Er begleitete mich zurück bis an die Tür. «Schön, sehr schön, ich war entzückt! Sie werden sicherlich die ‹Agrégation› bestehen», schloss er mit degoutierter Miene. Es war zweifellos heilsam für mich, aber weniger aufrichtend als die Weissagungen Jean Baruzis.
    Ich versuchte mir ein Gegengewicht zu schaffen. Aber Stépha kümmerte sich um ihre Aussteuer und richtete ihren Haushalt ein, ich sah sie kaum. Meine Schwester war in trüber Stimmung, Lisa verzweifelt, Clairaut ziemlich distanziert, Pradelle immer der Gleiche; Mallet büffelte für sein Diplom. Ich versuchte mich für Mademoiselle Roulin und einige andere Studiengefährtinnen zu interessieren. Es gelang mir nicht. Einen ganzen Nachmittag lang machte ich beim Durchwandern der Galerien des Louvre eine große Reise durch Assyrien, Ägypten und Griechenland; als ich draußen war, fand ich mich – an einem recht feuchten Abend – in Paris. Ohne Gedanken, ohne Liebe schleppte ich mich dahin. Ich verachtete mich selbst. Ich dachte an Jacques wie an etwas sehr Fernes, an einen aufgegebenen Stolz. Suzanne Boigue, die aus Marokko zurückgekommen war, empfing mich in einer hellen, exotisch angehauchten Wohnung; sie wurde geliebt und war glücklich, ich beneidete sie. Was am meisten auf mir lastete, war, dass ich mich selbst in meiner Substanz vermindert fühlte. ‹Es kommt mir vor, als sei ich auf alle Zeit verloren, und das Schlimmste ist, dass ich nicht einmal darunter zu leiden vermag … Ich bin schlaff, lasse mich je nach meinen Beschäftigungen oder den Träumereien des Augenblicks beeinflussen. Kein Teil von mir fühlt sich zu irgendetwas verpflichtet; weder mit einer Idee noch mit irgendeinem Gefühl verknüpft mich jenes nahe, grausam spannende Band, das mich lange Zeit mit so vielen Dingen verbunden hat; ich interessiere mich für alles ‚mit Maßen‘; Oh!, ich bin so vernünftig, dass ich nicht einmal mehr Angst für meine Existenz in mir verspüre.› Ich krampfte mich an die Hoffnung an, dass dies alles nur vorübergehend sei; in vier Monaten würde ich den ‹Concours› hinter mir haben und mich von neuem für mein Leben interessieren können; dann würde ich mit meinem Buch beginnen. Gern aber hätte ich eine Hilfe gehabt, die mir von außen gekommen wäre: ‹Verlangen nach einem neuen Gefühl der Zuneigung, einem Abenteuer, nach irgendetwas, das mir etwas anderes bringt!›
    Die Poesie der Bars hatte sich verflüchtigt. Aber nach einem in der Nationale oder der Sorbonne verbrachten Tag ertrug ich es nur sehr schlecht, zu Hause eingesperrt zu bleiben. Wohin aber gehen? Von neuem strich ich am Montparnasse umher, eines Abends mit Lisa, dann einmal mit Fernando und Stépha zusammen. Meine Schwester hatte sich mit einer ihrer Gefährtinnen von der Kunstgewerbeschule angefreundet, einem hübschen, geschmeidigen, kecken Mädchen von siebzehn Jahren, dessen Mutter eine Konditorei betrieb; sie wurde Gégé genannt; sie ging sehr unbekümmert aus. Ich traf die beiden oft am ‹Dôme›. Eines Abends beschlossen wir, ins ‹Jungle› zu gehen, das gerade seine Pforten gegenüber dem ‹Jockey› geöffnet hatte; aber die Mittel fehlten uns. «Das tut nichts», sagte Gégé. «Warten Sie nur da drüben auf uns: Es wird sich schon arrangieren.» Ich ging einstweilen hinein und setzte mich an die Bar. Auf ihren Bänken am Boulevard stöhnten Poupette und Gégé laut hörbar vor sich hin. «Und wenn man denkt, dass uns nur zwanzig Franc fehlen.» Ein Vorübergehender wurde weich. Ich weiß nicht mehr, was sie ihm erzählten, aber jedenfalls hockten sie bald an meiner Seite hinter einem Gin Fizz. Gégé verstand sich darauf, die Männer anzulocken. Man zahlte uns Drinks und tanzte mit uns. Eine Zwergin, die Chiffon genannt wurde und die ich bereits im ‹Jockey› gehört hatte, sang und trug Obszönitäten vor, während sie ihre Röcke hob; sie stellte striemenbedeckte Schenkel zur Schau und erzählte, wie ihr Liebhaber sie mit Bissen traktierte. In gewisser Weise war es ganz erfrischend. Wir gingen noch öfter hin. An der Bar

Weitere Kostenlose Bücher