Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
der Schlimmste der drei; man sagte sogar, er tränke. Ein Einziger kam mir zugänglich vor: Herbaud. Auch er war verheiratet. Wenn er in Gesellschaft von Sartre und Nizan erschien, ignorierte er mich. Wenn ich ihn allein traf, tauschten wir ein paar Worte miteinander.
Im Januar hatte er in Brunschvicgs Seminar einen Vortrag gehalten und im Verlaufe der darauffolgenden Diskussion alle Anwesenden amüsiert. Ich war sehr empfänglich für den Zauber seiner spottenden Stimme, seiner ironisch vorgeschobenen Unterlippe. Entmutigt durch den Anblick der sämtlich ins Graue spielenden Agregationsaspiranten, ruhte mein Blick gern auf seinem rosigen Antlitz, in dem kindlich blaue Augen leuchteten; sein blondes Haar war kräftig und lebendig wie Gras. Eines Morgens war er zum Arbeiten in die Nationale gekommen, und trotz der Eleganz seines blauen Überziehers, seines hellen Schals und seines gutgeschnittenen Anzugs hatte ich gefunden, er sähe eher ländlich aus. Ich hatte die Eingebung, mich entgegen meinen Gewohnheiten zum Mittagessen in das Restaurant zu begeben, das im Innern der Bibliothek gelegen war: Er war so selbstverständlich zur Seite gerückt, als wenn wir verabredet seien. Wir sprachen von Hume und Kant. Ich war ihm auch im Vorzimmer von Laporte begegnet, der in sehr höflichem Ton zu ihm sagte: «Also abgemacht, Monsieur Herbaud, auf Wiedersehen»; bedauernd hatte ich mir gesagt, dass er ein verheirateter Mann sei, der sich ganz abseits hielt und für den ich niemals existieren würde. Eines Nachmittags hatte ich ihn in der Rue Soufflot in Begleitung von Sartre und Nizan mit einer Frau in Grau am Arm gesehen: Ich hatte mich ausgeschlossen gefühlt. Er war der Einzige von dem Trio, der an den Vorlesungen von Brunschvicg teilnahm; kurz vor den Osterferien hatte er sich dort neben mich gesetzt. Er hatte dann – durch die von Cocteau in
Le Potomak
geschaffenen inspiriert – ‹Eugènes› gezeichnet und kleine freche Gedichte verfasst. Ich hatte ihn sehr komisch gefunden und war ganz gerührt, in der Sorbonne auf jemanden zu stoßen, der sich etwas aus Cocteau machte. In gewisser Weise erinnerte Herbaud mich an Jacques; auch er ersetzte oft eine Bemerkung durch ein Lächeln und schien anderswo als in den Büchern zu leben. Jedes Mal, wenn er seither in die Nationale gekommen war, hatte er mich freundlich gegrüßt und ich darauf gebrannt, zu ihm etwas Gescheites zu sagen: Leider fiel mir nie etwas ein.
Als indessen Brunschvicgs Vorlesungen nach den Ferien wieder begannen, setzte er sich gleich neben mich. Er widmete mir ein ‹Porträt des durchschnittlichen Anwärters auf das höhere Lehramt› sowie andere Zeichnungen und Gedichte. Abrupt machte er mir die Mitteilung, er sei Individualist. «Ich auch», antwortete ich. «Sie?» Er sah mich misstrauisch prüfend an: «Sie habe ich doch für katholisch, thomistisch und sozial gehalten?» Ich protestierte, und er beglückwünschte mich zu der Übereinstimmung zwischen uns. In wahllosem Durcheinander sang er mir das Lob aller derer, die uns vorangegangen waren: Sulla, Barrès, Stendhal, Alkibiades, für den er eine Schwäche hatte; ich erinnere mich nicht mehr an alles, was er mir erzählte, aber er amüsierte mich mehr und mehr; er wirkte vollkommen selbstsicher und dabei doch so, als nehme er sich selbst kein bisschen ernst; gerade diese Mischung aus Hochmut und Ironie entzückte mich. Als er mir beim Abschied künftige lange Gespräche in Aussicht stellte, war ich sehr hochgestimmt. ‹Er verfügt über eine Art von Intelligenz, die mich sehr für ihn einnimmt›, notierte ich am Abend. Schon war ich bereit, Clairaut, Pradelle, Mallet, alle anderen ihm zuliebe aufzugeben. Offenbar besaß er den Reiz der Neuheit; ich wusste, dass ich mich rasch begeisterte, allerdings umgekehrt auch geneigt war, sehr schnell wieder enttäuscht zu sein. Dennoch war ich überrascht über die Heftigkeit dieser günstigen Voreingenommenheit. ‹Begegnung mit André Herbaud? Oder mit mir selbst? Welche von beiden hat mich so stark bewegt? Warum bin ich so bestürzt, als sei mir etwas zugestoßen?›
Etwas war mir zugestoßen, das indirekt über mein ganzes Leben entschied: Aber das sollte ich erst etwas später erfahren.
Von nun an besuchte Herbaud regelmäßig die Bibliothèque Nationale; ich reservierte ihm einen Platz neben meinem. Wir aßen in einer Art von Lunchroom im ersten Stock einer Bäckerei zu Mittag: Meine Mittel gestatteten mir gerade, das Tagesgericht zu bestellen,
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