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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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der unsere Spiele erfand. Er hatte sich vorgenommen, ein Flugzeug zu bauen, das er im Voraus zu Ehren Guynemers ‹Le vieux Charles› getauft hatte; um ihm Material zu liefern, sammelte ich alle Konservenbüchsen, die ich auf der Straße fand.
    Das Flugzeug wurde niemals auch nur im Einzelnen geplant, aber Jacques’ Vorrangstellung litt darunter nicht. In Paris wohnte er nicht in irgendeinem beliebigen Mietshaus, sondern in einem alten Bau am Boulevard Montparnasse, in dem Buntglasfenster hergestellt wurden; unten lagen die Büros, darüber die Privatwohnung, noch höher Werkstätten und unter dem Dach Ausstellungsräume; es war sein Haus, und er empfing mich darin mit der ganzen Würde eines jungen Chefs; er erklärte mir die Kunst der Glasmalerei und wodurch sich ihre Produkte von gewöhnlichem farbigem Glas unterschieden; er sprach zu den Arbeitern in protegierendem Ton; mit offenem Munde hörte ich diesem kleinen Buben zu, der bereits eine Belegschaft von Erwachsenen zu befehligen schien: Er imponierte mir. Mit großen Leuten sprach er wie mit seinesgleichen, und es schockierte mich sogar ein wenig, als er seine Großmutter hart anließ. Im Allgemeinen sah er auf Mädchen herab, umso mehr war mir daraufhin seine Freundschaft wert. «Simone ist ein frühreifes Kind», hatte er einmal erklärt. Der Ausspruch gefiel mir sehr. Eines Tages stellte er mit eigenen Händen ein Buntglasfenster her, dessen blaue, rote und weiße Rauten in Blei gefasst waren; in schwarzen Lettern hatte er eine Widmung hineingesetzt: ‹Für Simone›. Niemals wieder habe ich ein Geschenk erhalten, das so schmeichelhaft für mich war. Wir einigten uns auf eine ‹Liebesheirat›, und ich bezeichnete Jacques fortan als meinen ‹Verlobten›. Unsere Hochzeitsreise machten wir auf den Holzpferden des Karussells im Luxembourggarten. Ich nahm unsere Verlobung durchaus ernst, doch in seiner Abwesenheit dachte ich wenig an ihn. Wenn ich ihn sah, war ich froh, aber ich vermisste ihn nie.
    Das Bild von mir, das ich demgemäß aus der Zeit in mir trage, in der man zu Verstand zu kommen beginnt, ist das eines ordentlichen, glücklichen und bis zu einem gewissen Grade anmaßenden kleinen Mädchens. Zwei oder drei Erinnerungen widersprechen freilich diesem Porträt und legen mir die Vermutung nahe, dass ein geringer Umstand genügt hätte, um meine Sicherheit gründlich zu erschüttern. Mit acht Jahren war ich nicht mehr so ausgelassen wie in meiner frühen Kindheit, sondern schwächlich und ängstlich. Bei den Turnstunden, von denen ich schon sprach, trug ich ein hässliches enges Trikot, worauf eine meiner Tanten zu meiner Mutter gesagt hatte: «Sie sieht wie ein Äffchen aus.» Gegen Ende meiner Heilbehandlung reihte der Lehrer mich unter die Schüler eines Sammelkurses ein – eine Schar von Buben und Mädchen, die in Begleitung einer Gouvernante erschienen. Die Mädchen trugen blassblaue Jerseykostüme mit kurzen, anmutigen Faltenröcken; ihre glänzenden Haarflechten, ihre Stimmen, ihre Manieren – alles an ihnen war tadellos. Dennoch liefen, sprangen, tollten und lachten sie mit einer Freiheit und Ungeniertheit, die ich bislang als das Vorrecht der Gassenjungen angesehen hatte. Ich kam mir plötzlich linkisch, feige und hässlich, eben wie ein Äffchen vor; zweifellos mussten diese schönen Kinder wohl auch das in mir sehen; sie verachteten, schlimmer noch, sie ignorierten mich. Hilflos stand ich ihrem Triumph und meiner Nichtigkeit gegenüber.
    Einige Monate später nahm mich eine Freundin meiner Eltern, mit deren Kindern ich mich nur mäßig amüsierte, mit nach Villers-sur-Mer. Zum ersten Mal war ich ohne meine Schwester und fühlte mich wie verstümmelt dadurch. Ich fand das Meer uninteressant; die Bäder bedeuteten eine Qual für mich: Das Wasser benahm mir den Atem, ich hatte Angst. Eines Morgens lag ich schluchzend in meinem Bett. Madame Rollin zog mich bestürzt auf ihre Knie und fragte mich nach dem Grund meiner Tränen; es kam mir vor, als führten wir beide eine Komödie auf, und ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte; nein, niemand hatte mich schlecht behandelt, alle waren nett zu mir. In Wahrheit wusste ich – von meiner Familie getrennt, der Liebesbezeugungen, die mir wie eine Anerkennung meiner Verdienste schienen, sowie auch der festen Parolen und Anknüpfungspunkte, durch die mein Platz in der Welt bestimmt wurde, beraubt – überhaupt nicht mehr, wo ich hingehörte oder wozu ich eigentlich auf der Erde war.

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