Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Ich musste mich in einem festen Rahmen bewegen, dessen genaue Ausmaße mir Existenzberechtigung gaben. Ich war mir dessen selbst bewusst, denn jeder Wechsel schreckte mich. Dass ich weder einen Trauerfall noch einen Ortswechsel erlebte, ist einer der Gründe, die mir gestatteten, ziemlich lange in meinen kindlichen Ansprüchen zu verharren.
Meine natürliche Seelenheiterkeit machte jedoch während des letzten Kriegsjahres eine Krise durch.
Es war in diesem Winter sehr kalt, und es fehlte an Kohlen; in der schlecht erwärmten Wohnung presste ich meine mit Frostbeulen bedeckten Hände vergeblich an die Heizung. Die Periode der Einschränkungen hatte begonnen. Das Brot war grau oder allzu weiß. Anstelle unserer Morgenschokolade bekamen wir fade Suppen. Meine Mutter stellte Omeletts ohne Eier und Süßspeisen mit Margarine her, bei denen Saccharin den Zucker ersetzen musste; sie brachte Gefrierfleisch, Pferdebeefsteaks und traurige Gemüse wie japanische Kartoffeln, Topinambur, Rote Bete und Jerusalemartischocken auf den Tisch. Um den Wein zu sparen, fabrizierte Tante Lili ein aus Feigen gegorenes abscheuliches Getränk, die ‹Figuette›. Die Mahlzeiten hatten nichts mehr von ihrer früheren Heiterkeit. Oft heulten nachts die Sirenen; draußen erloschen die Straßenlaternen, die Fenster wurden dunkel; man hörte die eiligen Schritte und den ärgerlichen Ruf: «Licht aus!» des Luftschutzwarts, der unseren Häuserblock betreute, es war Monsieur Dardelle. Zwei- oder dreimal verlangte meine Mutter, dass wir in den Keller gingen; da aber mein Vater hartnäckig oben blieb, beschloss sie endlich, sich auch nicht mehr fortzurühren. Bestimmte Mieter aus den oberen Etagen suchten regelmäßig in unserem Vorzimmer Schutz: Sie richteten sich auf Sesseln häuslich ein und versuchten zu schlafen. Manchmal dehnten Freunde, die durch den Alarm bei uns festgehalten wurden, eine Bridgepartie bis zu ungewöhnlichen Morgenstunden aus. Ich genoss diese Aufhebung der Ordnung sowie auch die Totenstille der Stadt hinter den abgedunkelten Fenstern und ihr jähes Erwachen, wenn die Entwarnung einsetzte. Bedauerlicherweise nahmen meine Großeltern, die in der Nähe des ‹Lion de Belfort› eine Wohnung im fünften Stock innehatten, die ‹Tauben› der Deutschen sehr ernst; sie stürzten in den Keller, und am folgenden Tag mussten wir erscheinen und uns überzeugen, dass sie noch einmal heil davongekommen waren. Bei den ersten Einschlägen der ‹dicken Bertha› schickte Großpapa, vom alsbaldigen Einzug der Deutschen überzeugt, seine Frau und seine Tochter nach La Charité-sur-Loire; er selbst wollte zur gegebenen Zeit zu Fuß bis nach Longjumeau fliehen. Erschöpft durch die temperamentvolle Besessenheit ihres Mannes, wurde Großmama krank. Zur ärztlichen Behandlung musste sie nach Paris zurückgebracht werden, aber da sie im Falle eines Fliegerangriffs nicht mehr imstande gewesen wäre, ihren fünften Stock zu verlassen, fand sie Zuflucht bei uns. Als sie von einer Krankenschwester begleitet ankam, erschreckten mich die Röte ihrer Wangen und ihr leerer Blick; sie konnte nicht mehr sprechen und erkannte mich nicht. Sie erhielt mein Zimmer, während wir drei, Louise, meine Schwester und ich, im Salon kampierten. Tante Lili und Großpapa nahmen ihre Mahlzeiten bei uns im Hause ein. Mit seiner machtvollen Stimme sagte Letzterer Katastrophen voraus oder verkündete plötzlich, dass ihm ein Vermögen in den Schoß gefallen sei. Seine Untergangsgefühle wurden in der Tat von einem extravaganten Optimismus begleitet. Als er noch Bankier in Verdun war, hatten seine Spekulationen zu einem Bankrott geführt, der seine Kapitalien sowie die einer großen Zahl von Kunden verschlungen hatte. Nichtsdestoweniger hielt er an dem Vertrauen zu seinem Stern und zu seiner Voraussicht fest. Im Augenblick leitete er eine Schuhfabrik, die aufgrund von Heeresaufträgen ganz gut beschäftigt war; dieses bescheidene Unternehmen aber genügte seinem Tatendurst nicht, er wollte Geschäfte einfädeln, Ideen in die Tat umsetzen und zu Geld gelangen. Zu seinem Unglück konnte er über keinerlei Vermögensbestände mehr ohne Zustimmung seiner Frau und seiner Kinder verfügen; er versuchte daraufhin, Papas Unterstützung zu gewinnen. Eines Tages brachte er ihm einen kleinen Goldbarren, den ein Alchimist vor seinen Augen aus einem Bleiklumpen gewonnen hatte: Dieses Geheimverfahren sollte uns zu Millionären machen, sofern wir uns nur auf einen Vorschuss für den
Weitere Kostenlose Bücher