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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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der Rue Jacob erschien, fanden wir das ganze Haus leer: Alles war in den Keller gegangen. Wir lachten sehr über dieses Erlebnis. Entschieden bewiesen wir durch unseren Mut und unsere Unbeeindruckbarkeit, dass wir etwas Besonderes waren.
    Großmama wurde wieder normal und kehrte nach Hause zurück. Während der Ferien und zu Beginn des Schuljahrs hörte ich viel von zwei Verrätern reden, die versucht hatten, Frankreich an Deutschland zu verkaufen: Malvy und Caillaux. Sie wurden nicht erschossen, wie es sich von Rechts wegen gehört hätte, aber ihre Machenschaften wurden vereitelt. Am 11 . November übte ich gerade Klavier unter Aufsicht von Mama, als die Glocken den Waffenstillstand einläuteten. Papa legte wieder Zivilkleidung an. Mamas Bruder starb, als er eben in die Heimat entlassen war, an der spanischen Grippe. Ich hatte ihn jedoch wenig gekannt, und als auch Mama ihre Tränen getrocknet hatte, erstand neu, zumal für mich, das Glück.
     
    Im Hause durfte nichts verlorengehen: keine Brotkruste, kein Stück Bindfaden, kein Freibillett noch irgendeine Gelegenheit, kostenlos zu speisen. Meine Schwester und ich trugen unsere Kleider ab, bis sie fadenscheinig wurden, und sogar fast noch darüber hinaus. Meine Mutter vergeudete niemals eine Sekunde: Wenn sie las, strickte sie auch noch; während sie sich mit meinem Vater oder mit Freunden unterhielt, nähte, stopfte oder stickte sie; in der Metro oder Trambahn stellte sie kilometerweise ‹Frivolitäten› her, mit denen sie unsere Unterröcke verzierte. Abends rechnete sie ab: Seit Jahren schon wurde jeder Centime, der durch ihre Hände gegangen war, in einem großen schwarzen Buch vermerkt. Ich glaubte, dass – nicht nur in unserer Familie, sondern überall – Zeit und Geld so knapp zugemessen seien, dass man sie mit größter Sorgfalt verwalten müsse; diese Vorstellung war mir ganz recht, da ich mir eine Welt ohne Extravaganzen wünschte. Poupette und ich spielten oft, wir seien Forschungsreisende, die sich in der Wüste verirrt, oder Schiffbrüchige, die sich auf eine Insel gerettet hätten; wir entfalteten dann alle Künste unserer Einbildungskraft, um aus den winzigsten Hilfsquellen noch möglichst viel Nutzen zu ziehen; es war dieses sogar eines unserer Lieblingsthemen. ‹Alles verwerten!› – diese Parole behielt ich auch in der Wirklichkeit bei. In den Heften, in die ich von einer Woche zur anderen das Programm unseres Unterrichts eintrug, begann ich mit winzigen Buchstaben zu schreiben, ohne auch nur ein freies Fleckchen zu lassen: Verwundert fragten die Damen des Cours Désir meine Mutter, ob ich wohl geizig sei. Ich gab diese fixe Idee allerdings bald wieder auf. Freiwillig Ersparnisse machen ist ein Widerspruch in sich selbst und nicht sehr amüsant. Doch blieb ich gleichwohl überzeugt, dass man alle Dinge und auch sich selbst um und um ausnutzen solle. In La Grillère gab es oft – vor oder nach den Mahlzeiten oder nach der Messe – tote Augenblicke, die mich sehr bald unruhig werden ließen. «Kann dieses Kind denn nicht einen Augenblick existieren, ohne etwas zu tun?», fragte ungeduldig Onkel Maurice; meine Eltern lachten mit mir darüber: Auch sie verurteilten den Müßiggang. Ich hielt ihn für umso verdammenswerter, als ich ihn langweilig fand. Pflicht und Vergnügen waren somit ein und dasselbe für mich. Aus diesem Grunde war mein Dasein in jener Periode so glücklich: Ich brauchte nur meiner Neigung zu folgen, und alle Welt war entzückt von mir.
    Im Institut Adeline Désir gab es Vollpensionärinnen, Halbpensionärinnen, Externe, die ihre Schulaufgaben dort unter Aufsicht machten, und andere, die sich darauf beschränkten, am Unterricht teilzunehmen; zweimal in der Woche fand ein jeweils zweistündiger Kursus in allgemeiner Bildung statt; außerdem nahm ich an englischen Stunden, am Klavier- und Katechismusunterricht teil. Die Gefühle aus meiner ersten in diesem Hause verlebten Zeit hatten sich bei mir niemals abgestumpft: Der Augenblick, in dem Mademoiselle das Klassenzimmer betrat, leitete eine Zeit höherer Weihe ein. Unsere Lehrer berichteten uns im Grunde nichts sehr Aufregendes; wir sagten unsere Lektionen auf, und sie korrigierten unsere schriftlichen Arbeiten; doch ich verlangte von ihnen auch weiter nichts, als dass sie öffentlich mein Dasein sanktionierten. Meine Verdienste wurden in ein Register eingetragen, in dem sie für alle Ewigkeit aufbewahrt blieben. Jedes einzelne Mal hatte ich das Bedürfnis, wenn schon

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