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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nach schmerzlichen Prüfungen, die ihnen von männlichen Wesen auferlegt worden waren. Ich selbst dachte mich gern in die Rolle des Opfers hinein. Manchmal legte ich den Ton vor allem auf den nachträglichen Triumph: Der Henker war nur ein unbedeutender Mittler, der zwischen dem Märtyrer und seiner Palme stand. So veranstalteten wir beide, meine Schwester und ich, Abhärtungswettbewerbe: Wir kniffen uns mit der Zuckerzange, wir ritzten uns mit dem Haken unserer Fähnchen; man musste sterben können, ohne abzuschwören; ich mogelte in schmählicher Weise, denn ich gab meinen Geist bereits bei der kleinsten Verletzung auf, während ich bei meiner Schwester, solange sie nicht nachgegeben hatte, behauptete, sie lebe immer noch. Als Nonne, die in einem Kerker schmachtete, trotzte ich meinem Gefangenenwärter, indem ich geistliche Lieder sang. Die Passivität, zu der mein Geschlecht mich verdammte, verwandelte ich in Widerstand. Oft indessen begann ich mir auch darin zu gefallen: Ich genoss die Wonnen des Unglücks und der Demütigung. Meine Frömmigkeit machte mich zum Masochismus geneigt; auf den Knien zu Füßen eines jungen blonden Gottes liegend oder nachts im Beichtstuhl vor dem sanften Abbé Martin erlebte ich ein wonnevolles Dahinschwinden meiner Sinne; Tränen strömten über meine Wangen, ohnmächtig sank ich den Engeln in die Arme. Ich steigerte diese Emotionen bis zum Paroxysmus, wenn ich mich im blutdurchtränkten Hemd der hl. Blandina den Klauen der Löwen oder den Blicken der Menge überließ. Oder aber ich lebte mich vollkommen, durch Griseldis oder Genoveva inspiriert, in die Rolle der verfolgten Gattin ein; meine Schwester, die dazu angelernt war, den Blaubart zu spielen, verjagte mich grausam aus dem Schloss; ich irrte im wilden Walde umher bis zu dem Tag, an dem meine Unschuld sich strahlend offenbarte. Manchmal änderte ich das Libretto ab und träumte davon, eine geheimnisvolle Schuld begangen zu haben, ich schmolz dann in Reue zu Füßen eines schönen, reinen, aber furchtbar dräuenden Mannes dahin. Von meinen Gewissensbissen, meinem Elend, meiner Liebe schließlich dennoch gerührt, legte der Gerichtsherr die Hand auf mein gebeugtes Haupt; ich fühlte, wie die Kräfte mich verließen. Gewisse meiner Phantasien vertrugen das Licht des Tages nicht; nur im Geheimen durchlebte ich sie. Ich fühlte mich ungemein tief berührt durch das Los des gefangenen Königs, den ein Tyrann des Ostens als Schemel benutzte, wenn er zu Pferde stieg; es kam vor, dass ich mich zitternd, halb nackt an die Stelle des Sklaven versetzte, dem ein scharfer Sporn den Rücken zerriss.
    Mehr oder weniger deutlich begann in diesen Phantasien die Nacktheit eine Rolle zu spielen. Die zerrissene Tunika der hl. Blandina enthüllte die Weiße ihrer Flanken; nur das eigene Haupthaar umhüllte Genoveva von Brabant. Ich hatte Erwachsene stets nur von Kopf bis Fuß bekleidet gesehen; mich selbst hatte man gelehrt, außer bei meinen Bädern – dann aber schrubbte Louise mich so kräftig ab, dass mir alles Behagen verging – nie meinen Körper zu betrachten und die Wäsche zu wechseln, ohne mich zu entblößen. In meinem Universum hatte der nackte Leib keinerlei Existenzberechtigung. Dennoch hatte ich die Süße des Ruhens im Mutterarm kennengelernt; im Ausschnitt gewisser Corsagen entstand eine dunkle Furche, die mir peinlich war, mich aber doch faszinierte. Ich war nicht erfinderisch genug, um den Versuch zu machen, das in der Turnstunde halb erlebte Vergnügen noch einmal herbeizuführen; manchmal aber erbebte ich leicht unter einer ganz zarten Berührung meiner Haut, unter einer Hand, die an meinem Hals entlangstrich. Zu unwissend, um Liebkosungen zu erfinden, nahm ich mit Aus- und Umwegen vorlieb. Unter dem Bilde des Mannes, der als Steigbügel diente, vollzog ich in mir die Metamorphose des Körpers zum Objekt. Ich verwirklichte sie an mir selbst, wenn ich mir vorstellte, wie ich zu Füßen eines Herrn und Meisters zusammenbrach. Um mich von meiner Schuld loszusprechen, ließ er seine richterliche Hand auf meinem Nacken ruhen: Während ich noch um Vergebung flehte, wurde mir höchste Lust zuteil. Aber wenn ich mich dieser köstlichen Selbstvernichtung überließ, vergaß ich gleichwohl nie, dass alles nur ein Spiel war. Ernstlich unterwarf ich mich niemandem: Ich war und blieb stets mein eigener Herr.
    Ich hatte sogar eine gewisse Tendenz, mich wenigstens im Bereich der Kindheit als ‹Einzige› zu betrachten. Da ich gesellig

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