Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
veranlagt war, besuchte ich mit Vergnügen einige von meinen Klassenkameradinnen. Wir spielten Schwarzer Peter und Lotto, wir tauschten Bücher untereinander aus. Aber alles in allem hegte ich keine große Achtung vor meinen kleinen Freunden, ob Buben oder Mädchen. Ich wollte ernsthaft und unter Wahrung der Regeln spielen und dabei auch so, dass man leidenschaftlich einander den Sieg streitig machte; meine kleine Schwester kam diesen Forderungen nach; aber die übliche Oberflächlichkeit meiner sonstigen Partnerinnen machte mich ungeduldig. Ich vermute, dass umgekehrt ich ihnen häufig auf die Nerven fiel. Es gab eine Zeit, in der ich im Cours Désir eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts erschien; ich mischte mich in der Pause unter die Halbpensionärinnen; als eines der kleinen Mädchen mich über den Hof gehen sah, rieb sie sich mit einer ausdrucksvollen Geste das Kinn: «Da ist sie schon wieder! O Gott, so ein Bart!» Sie war hässlich, unbegabt und Brillenträgerin; ich war ein wenig verwundert, aber ärgerte mich nicht. Eines Tages besuchten wir vor den Toren von Paris Freunde meiner Eltern, deren Kinder ein Krocketspiel besaßen; in La Grillère war das unser Lieblingszeitvertreib gewesen; während des Nachmittagstees und des darauffolgenden Spaziergangs sprach ich unaufhörlich davon. Ich brannte vor Ungeduld. Meine Freunde aber beklagten sich meiner Schwester gegenüber: «Sie ist ja langweilig mit ihrem Krocket!» Als ich mir am Abend diese Worte wieder ins Gedächtnis rief, regten sie mich nicht weiter auf. Kinder, die ihre Minderwertigkeit dadurch bekundeten, dass sie das Krocketspiel nicht ebenso glühend liebten wie ich, konnten mich nicht kränken. Ganz verrannt in unsere Vorlieben, Gewohnheiten, Grundsätze und Rangordnungen, verstanden wir uns immer, meine Schwester und ich, wenn es darum ging, anderen Kindern Dummheit nachzusagen. Durch die Herablassung der Erwachsenen werden alle Kinder als eine Gattung angesehen, deren einzelne Individuen einander vollkommen gleichen: Nichts ärgerte mich mehr als das. Als ich in La Grillère Haselnüsse aß, erklärte die alte Jungfer, die die Hauslehrerin für Madeleine abgab, als wisse sie es ganz genau: «Kinder schwärmen immer für Haselnüsse.» Mit Poupette zusammen lachte ich sie insgeheim aus. Meine Neigungen wurden mir nicht durch meine Jahre diktiert; ich war nicht schlechthin ‹ein Kind›: Ich war Ich.
    In ihrer Eigenschaft als Vasallin hatte meine Schwester an der Souveränität, die ich mir zuerkannte, teil: Streitig machte sie sie mir nicht. Ich hatte das Gefühl, dass, wenn ich sie teilen müsste, mein Leben jeden Sinn verlöre. In meiner Klasse waren Zwillinge, die sich vorzüglich miteinander vertrugen. Ich fragte mich, wie man sich damit abfinden kann, mit etwas wie einem Doppelgänger zu leben; ich hätte mich in diesem Fall, so kam es mir vor, nur noch als halbe Person gefühlt; ich hatte sogar den Eindruck, dass meine Erlebnisse dadurch, dass sie sich identisch in einer anderen wiederholten, mir nicht mehr gehören würden. Eine Zwillingsschwester hätte meiner Existenz entzogen, was ihren Wert ausmachte: ihre wundervolle Einzigartigkeit.
    Während meiner ersten acht Jahre kannte ich nur ein einziges Kind, an dessen Urteil mir gelegen war. Glücklicherweise verachtete dieses Kind mich nicht. Meine schnurrbärtige Tante wählte oft als Helden für ihre
Poupée modèle
ihre Enkel Titite und Jacques: Titite war drei Jahre, Jacques ein halbes Jahr älter als ich. Sie hatten ihren Vater durch einen Autounfall verloren; ihre Mutter, die wiederverheiratet war, lebte in Châteauvillain. In dem Sommer, nachdem ich acht Jahre alt geworden war, hielten wir uns ziemlich lange bei Tante Alice auf. Die beiden Häuser stießen fast aneinander. Ich nahm an den Unterrichtsstunden teil, die ein sanftes blondes junges Mädchen meinem Vetter und meiner Cousine gab: Da ich weniger weit war als Jacques, war ich geblendet von seinen brillanten Niederschriften, seinem Wissen und seiner Sicherheit. Mit seinem rosigen Teint, seinen goldbraunen Augen und seinem Haar, das wie die Schale einer Rosskastanie glänzte, war er ein sehr hübscher kleiner Bursche. Auf dem Treppenflur des ersten Stocks hatte er einen Bücherschrank stehen, aus dem er meine Lektüre auswählte; nebeneinander auf den Treppenstufen sitzend, vertieften wir uns jedes in sein Buch, ich in
Gullivers Reisen
und er in eine
Astronomie für alle
. Wenn wir in den Garten gingen, war er derjenige,

Weitere Kostenlose Bücher