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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Erfinder einließen. Papa lächelte, Großpapa lief rot an, meine Mutter und Tante Lili ergriffen Partei, alles schrie. Diese Art von Szenen wiederholte sich oft. Völlig erschöpft gerieten Louise und Mama häufig aneinander: Es kam zu ‹bösen Worten›, ja, manchmal stritt Mama sogar mit Papa; sie schalt uns, meine Schwester und mich, und ohrfeigte uns, wenn ihr die Nerven durchgingen. Ich aber war jetzt nicht mehr fünf Jahre alt. Die Zeit war vorbei, da bei einem Streit meiner Eltern für mich der Himmel einstürzte; ich verwechselte auch nicht mehr momentane Ungeduld mit Ungerechtigkeit. Immerhin, wenn ich nachts durch die Glastür, die das Esszimmer vom Salon trennte, den gehässigen Aufruhr des Zorns vernahm, verbarg ich mich mit schwerem Herzen unter meinem Betttuch. Ich dachte an die Vergangenheit wie an ein verlorenes Paradies. Würde es wiedererstehen? Die Welt erschien mir nicht mehr unbedingt als ein sehr sicherer Ort.
    Was sie verdüsterte, war vor allem der Umstand, dass mein Geist im Reifen begriffen war. Durch Bücher, Frontberichte und Unterhaltungen, die ich mit angehört hatte, wurde die Wahrheit über den Krieg mir bewusst: Kälte, Schmutz, Grauen, Blutvergießen, Schmerzen, Todesangst. Wir hatten Freunde und Vettern an der Front verloren. Trotz aller Verheißungen des Himmels befiel mich atemlose Beklemmung bei dem Gedanken an den Tod, der auf Erden die Leute, die einander lieben, für immer und ewig trennt. In meiner und meiner Schwester Anwesenheit hieß es manchmal: «Sie haben Glück, dass sie noch Kinder sind! Sie ahnen nicht …» Im Innern protestierte ich: ‹Offenbar haben die Erwachsenen im Gegenteil keine Ahnung von uns!› Es kam vor, dass ich mich von etwas so Bitterem und dabei Endgültigem überflutet fühlte, dass ich sicher war, niemand könne schlimmere Nöte erleben. ‹Weshalb so viele Leiden?›, fragte ich mich. In La Grillère verzehrten deutsche Gefangene und ein junger belgischer Flüchtling, der wegen krankhafter Fettleibigkeit vom Waffendienst zurückgestellt war, zusammen mit französischen Arbeitern in der Küche ihre Suppe: Sie verstanden sich sehr gut. Alles in allem waren auch die Deutschen Menschen; auch sie vergossen ihr Blut und starben auf dem Schlachtfeld. Weshalb? Ich begann fieberhaft zu beten, dass dieses Unglück ein Ende nehmen möge. Der Friede wurde mir wichtiger als der Sieg. Einmal auf der Treppe hatte ich ein Gespräch mit Mama; sie sagte mir, der Krieg werde vielleicht bald enden. «Ja», stieß ich heftig hervor, «wenn er nur aufhören würde! Ganz egal, wie! Wenn er nur ein Ende hat!» Mama blieb stehen und sah mich erschrocken an: «So etwas darfst du nicht sagen! Auf alle Fälle muss doch Frankreich siegen!» Ich schämte mich, nicht nur, weil ich etwas so Ungeheuerliches gesagt, sondern auch, weil ich es gedacht hatte. Dennoch fiel mir schwer zu glauben, ein Gedanke könne schuldhaft sein. Unter unserer Wohnung, gegenüber dem friedlichen ‹Dôme›, wo Monsieur Dardelle Domino spielte, war ein lärmendes Café, die ‹Rotonde›, eröffnet worden. Man sah dort geschminkte Frauen mit kurzem Haar und Männer in bizarrer Kleidung verkehren. «Das ist ein richtiger Unterschlupf für Landfremde und Defaitisten», pflegte Papa zu sagen. Ich wollte von ihm wissen, was ein Defaitist sei. «Ein schlechter Franzose, der an Frankreichs Niederlage glaubt», antwortete er mir. Ich konnte das nicht begreifen. Gedanken entstehen und verschwinden ganz eigenmächtig in unserem Kopf, man ist nicht Herr darüber, ob man etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls bestärkten mich die empörte Miene meines Vaters und das schockierte Gesicht meiner Mutter in der Idee, dass man nicht vorschnell alle Besorgnisse laut werden lassen darf, die man sich nur selbst ganz leise im Innern zuraunt.
    Mein zaudernder Patriotismus hinderte mich nicht daran, auf die Vaterlandsliebe meiner Eltern eher stolz zu sein. Durch deutsche Flieger und die ‹dicke Bertha› eingeschüchtert, verließen die meisten Schülerinnen unseres Instituts Paris vor dem Ende des Schuljahrs. Ich blieb in meiner Klasse mit einem törichten großen Mädchen von etwa zwölf Jahren allein zurück; an dem leer gewordenen großen Tisch saßen wir beide Mademoiselle Gontran gegenüber; sie beschäftigte sich vor allem mit mir. Ich fand ein besonderes Vergnügen an diesen Unterrichtsstunden, die feierlich wie Vorlesungen und intim wie Privatstunden waren. Eines Tages, als ich mit Mama und meiner Schwester in

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