Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
den
Eingebildeten Kranken
vorlas. Ein wenig später lauschte sie ihm mit achtungsvollem Interesse, wenn er uns in der großen Galerie des Louvre die Schönheiten eines Bildes von Correggio erklärte oder beim Verlassen einer Filmaufführung der
Drei Musketiere
vorhersagte, das Kino werde die Kunst umbringen. Mit Rührung malte sie mir den Abend aus, an dem ihre Eltern, eben frisch verheiratet, Hand in Hand am Ufer eines Sees die Barkarole
Schöne Nacht, o Liebesnacht
angehört hätten … Allmählich aber begann sie, sich anders zu äußern. «Papa nimmt alles so ernst!», bemerkte sie eines Tages verstimmt. Die Ältere, Lili, kam ganz auf Monsieur Mabille heraus; methodisch, genau, kategorisch wie er, glänzte sie in Mathematik: Die beiden verstanden einander ganz wundervoll. Zaza liebte die sehr positive und gern Moral predigende Schwester hingegen nicht besonders. Madame Mabille legte die größte Hochachtung für dieses Musterexemplar an den Tag, aber es bestand zwischen ihnen eine dumpfe Rivalität, und oft brach etwas wie Feindseligkeit sogar spürbar durch; Madame Mabille machte kein Geheimnis aus ihrer Vorliebe für Zaza: «Sie ist ganz und gar mein Abbild», erklärte sie in enthusiastischem Ton. Zaza ihrerseits zog ihre Mutter leidenschaftlich vor. Sie erzählte mir, Monsieur Mabille habe um die Hand seiner Cousine mehrfach vergeblich angehalten; Guite Larivière, die ihrerseits schön, feurig und lebhaft war, hatte Angst vor dem strengen Polytechniker gehabt. Indessen führte sie im Baskenlande eine sehr zurückgezogene Existenz; es boten sich dort nicht gerade sehr viele Partien für sie; mit fünfundzwanzig Jahren hatte sie sich unter dem energischen Druck ihrer Mutter darein ergeben, endlich ja zu sagen. Zaza vertraute mir an, dass Madame Mabille – der sie wahre Schätze an Charme, Gefühl und Phantasie nachsagte – unter dem Unverständnis eines Gatten gelitten habe, der langweilig wie ein Algebrabuch war. Sie sagte dabei wohl längst nicht alles, was sie dachte. Heute bin ich mir darüber klar, dass sie gegen ihren Vater eine physische Abneigung hegte. Ihre Mutter klärte sie sehr früh mit fast boshafter Schonungslosigkeit über die Realitäten des Sexuallebens auf: Zaza erfuhr noch reichlich jung, dass Madame Mabille von der ersten Nacht an und für alle Zeiten den ehelichen Verkehr gründlich verabscheut hatte. Die Abneigung, die ihr Vater ihr einflößte, erstreckte sich bei Zaza auf dessen ganze Familie. Hingegen schwärmte sie für ihre Großmutter mütterlicherseits, die immer, wenn sie nach Paris kam, das Bett mit ihr teilte. Monsieur Larivière hatte seinerzeit in Zeitungen und Provinzzeitschriften an der Seite von Louis Veuillot gekämpft; er hatte einige Artikel und eine umfangreiche Bibliothek hinterlassen; gegen ihren Vater, gegen die Mathematik optierte Zaza für die Literatur; als aber ihr Großvater gestorben war, gab es, da weder Madame Larivière noch Madame Mabille auf geistige Kultur bedacht waren, niemanden, der Zaza irgendwelche Prinzipien oder Geschmacksregeln hätte einprägen können; so kam sie notgedrungen dazu, auf eigene Faust zu denken. Im Grunde genommen war der Rahmen ihrer Originalität ziemlich eng. Eigentlich drückte Zaza, wie ich, nur aus, was sie aus ihrem Milieu entnahm. Aber im Cours Désir und in unseren Häuslichkeiten waren wir so sehr auf Vorurteile und Gemeinplätze beschränkt, dass der geringste Anlauf zur Aufrichtigkeit und jedes Minimum an Erfindungsgabe bereits überraschend wirkte.
Was mir bei Zaza den größten Eindruck machte, war ihr Zynismus. Ich fiel aus allen Wolken, als sie mir – das geschah Jahre später – die Gründe dafür bekannt gab. Sie war weit davon entfernt, die hohe Meinung zu teilen, die ich selbst von ihr hatte. Madame Mabille hatte eine zu zahlreiche Nachkommenschaft, sie erfüllte zu viele soziale und gesellschaftliche Verpflichtungen, um sich irgendeinem ihrer Kinder besonders zu widmen: Ihre Geduld, ihr Lächeln überdeckten, glaube ich, eine große Kälte des Herzens; als Zaza noch ganz klein war, fühlte sie sich im Grunde verlassen; dann widmete ihre Mutter ihr eine spezielle, aber doch sehr eng bemessene Zuneigung: Die leidenschaftliche Liebe, die Zaza ihrerseits ihr entgegenbrachte, war sicherlich mehr eifersuchtbedingt als glücklich. Ich weiß nicht, ob nicht bei ihrem Groll gegen ihren Vater auch ein gewisses Maß an Liebesenttäuschung eine Rolle spielte: Offenbar war sie nicht gleichgültig gegen Herrn
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