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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Mädchens; indessen hatte sie ihre bubenhafte Unternehmungslust nicht eingebüßt: In den Ferien galoppierte sie durch die Wälder der ‹Landes›, ohne sich darum zu kümmern, dass die Äste sie streiften. Sie machte eine Italienreise; nach ihrer Rückkehr sprach sie von Bauwerken, Statuen und Bildern, die ihr besonders gefallen hatten; ich beneidete sie um die Freuden, die sie in einem so legendären Lande gekostet hatte, und schaute achtungsvoll zu dem dunklen Köpfchen auf, in dem so wundervolle Bilder wohnten. Ich war geblendet von ihrer originellen Art. Da ich weniger darauf aus war, mir Urteile zu bilden, als Kenntnisse zu erwerben, interessierte mich alles; Zaza hingegen wählte aus; von Griechenland war sie entzückt, die Römer langweilten sie; unempfindlich gegen die Schicksale der königlichen Familie, begeisterte sie sich für die Sendung Napoleons. Sie bewunderte Racine, Corneille ging ihr auf die Nerven. Sie verabscheute
Horace, Polyeucte
und war von glühender Sympathie für den
Misanthrope
erfüllt. Ich hatte sie immer leicht spöttisch gekannt; im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren wurde bei ihr die Ironie zum System; sie machte nicht nur die meisten Menschen lächerlich, sondern auch feststehende Bräuche und allgemein akzeptierte Ideen; Die
Maximen
La Rochefoucaulds hatte sie zu ihrem Lieblingsbuch erhoben und wiederholte unaufhörlich, dass allein Eigennutz das Handeln der Menschen bestimmt. Ich hatte keine allgemeine Meinung über die Menschheit, ihr beharrlicher Pessimismus jedoch imponierte mir. Viele ihrer Meinungen waren umstürzlerisch; sie erregte Empörung im Cours Désir, als sie in einem französischen Aufsatz Alceste gegen Philinte in Schutz nahm und ein anderes Mal Napoleon über Pasteur stellte. Manche unserer Lehrer verdachten ihr ihre Kühnheit; andere setzten sie auf das Konto ihrer Jugend und fanden sie eher amüsant: Sie war für die einen das schwarze Schaf und der Liebling der anderen. Gewöhnlich rangierte ich mit meinen Leistungen vor ihr, sogar im Französischen, wo ich meist die Bessere in Bezug auf den ‹Inhalt› war; aber ich stellte mir vor, dass sie wahrscheinlich den ersten Platz verschmähte; obwohl sie für ihre Schularbeiten weniger gute Noten erhielt als ich, verdankte sie doch ihrem natürlichen Schwung ein gewisses Etwas, das ich bei allem zähen Bemühen nie zu erlangen vermochte. Es hieß, sie besitze Persönlichkeit: Das war ihr größter Vorzug. Dank meiner vagen Nachgiebigkeit mir selbst gegenüber hatte ich keinen festen Umriss bekommen; in meinem Innern war ich schwankend und unbedeutend geblieben; in Zaza ahnte ich eine Gegenwart, die frisch wie eine Quelle sprudelte und, robust wie ein Marmorblock, mit so klaren Linien festgelegt wie ein Porträt von Dürer war. Ich verglich sie mit meiner inneren Leere und verachtete mich. Zaza nötigte mich zu dieser Konfrontation, denn sie zog oft eine Parallele zwischen ihrer Lässigkeit und meinem Arbeitseifer, zwischen ihren Fehlern und meiner Vollkommenheit, über die sie sich gern mokierte. Ich war vor ihren Sarkasmen nie sicher.
    «Ich habe keine Persönlichkeit», gestand ich mir traurig ein. Meine Neugier gab sich allem hin; ich glaubte an die Absolutheit des Wahren und an die Notwendigkeit des Sittengesetzes; meine Gedanken formten sich je nach ihrem Objekt; wenn manchmal einer von ihnen mich überraschte, so deshalb, weil er etwas Überraschendes widerspiegelte. Ich zog das Bessere dem Guten, das Schlechte dem Schlimmeren vor, ich verachtete, was verachtenswert war. Ich entdeckte keine Spur einer subjektiven Haltung in mir. Ich hätte mich gern grenzenlos gewollt, aber ich war nur gestaltlos wie das Unendliche. Das Paradoxe dabei war, dass ich diesen Mangel in dem Augenblick bei mir feststellte, als ich meine Individualität entdeckte: Mein Anspruch auf Universalität war mir bis dahin selbstverständlich erschienen, nun wurde er ein Charakterzug. «Simone interessiert sich für alles.» Ich fand mich begrenzt gerade durch die Ablehnung irgendwelcher Grenzen. Verhaltungsweisen, Ideen, die sich mir ganz natürlich aufgedrängt hatten, wurden in Wirklichkeit zum Ausdruck meiner Passivität und meines Mangels an kritischem Sinn. Anstatt das im Mittelpunkt des Alls fest verhaftete reine Bewusstsein zu bleiben, wurde ich körperhaft: Das bedeutete einen schmerzhaften Sturz von meiner Höhe herab. Das Antlitz, das man mir aufprägte, musste mich notwendigerweise enttäuschen, da ich bislang wie Gott

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