Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
selbst ohne Antlitz gelebt hatte. Deshalb war ich so bereit, mich in die Demut zu flüchten. Wenn ich nur ein Individuum unter anderen war, konnte möglicherweise jeder Unterschied, anstatt meine Souveränität zu bekräftigen, zur Unterlegenheit werden. Meine Eltern hatten aufgehört, für mich zuverlässige Bürgen zu sein; Zaza aber liebte ich so sehr, dass sie mir wirklicher vorkam als ich selbst: Ich war nur ihr Negativ; anstatt meine Eigenheit für mich in Anspruch zu nehmen, fand ich mich widerwillig mit ihr ab.
Ein Buch, das ich las, als ich etwa dreizehn Jahre alt war, lieferte mir einen Mythos, an den ich lange Zeit glaubte. Es war
L’Écolier d’Athènes
von André Laurie. Theagen, ein ernsthafter, fleißiger, vernunftbegabter Schüler, war ganz unter die Macht des schönen Euphorion geraten; dieser elegante, zarte, verfeinerte, künstlerische, geistreiche, anmaßende junge Aristokrat blendete Gefährten und Lehrer, obwohl ihm oft seine Lässigkeit und sein Ungestüm vorgeworfen wurden. Er starb in der Blüte der Jahre, und Theagen blieb es vorbehalten, fünfzig Jahre später ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen. Ich identifizierte Zaza mit dem schönen blonden Epheben und mich selbst mit Theagen. Es gab begabte Wesen und verdienstliche, unwiderruflich aber reihte ich selbst mich in die zweite dieser Kategorien ein.
Meine Bescheidenheit hatte indessen etwas Zweischneidiges; diejenigen, die nur Verdienste hatten, schuldeten den Begabten Bewunderung und Ergebenheit. Aber schließlich war es eben doch der seinen Freund überlebende Theagen, der von jenem sprach: Er war das Gedächtnis und das Bewusstsein, er war das wesentliche Subjekt. Wenn man mir vorgeschlagen hätte, Zaza zu sein, hätte ich abgelehnt; ich wollte lieber das Universum besitzen als eine nach außen wirksame Gestalt. Ich war noch immer der Überzeugung, dass ich als Einzige fertigbringen würde, die Wirklichkeit zu enthüllen, ohne sie zu entstellen oder zu verkleinern. Einzig wenn ich mich mit Zaza maß, beklagte ich bitter meine Banalität.
In gewisser Weise war ich das Opfer eines Selbstbetrugs; mich spürte ich vom Innern her, sie aber sah ich von außen: Es war also keine Partie mit gleichen Voraussetzungen. Ich fand ungemein interessant, dass sie keinen Pfirsich berühren oder auch nur sehen konnte, ohne eine Gänsehaut zu bekommen; mein Grauen vor Austern hingegen fand ich ganz selbstverständlich. Keine andere meiner Kameradinnen jedoch setzte mich in Erstaunen. Zaza war tatsächlich etwas Außergewöhnliches.
Von den neun Kindern Mabille war sie das dritte und von den Töchtern die zweite; ihre Mutter hatte keine Muße gehabt, sie hegend zu beschützen; so hatte Zaza ganz und gar an dem Treiben ihrer Brüder, ihrer Vettern und Freunde und an deren bubenhaftem Gehaben teilgenommen; früh schon war sie als ‹Große› angesehen und mit der Verantwortung betraut worden, die den Älteren zufällt. Madame Mabille, die mit fünfundzwanzig Jahren einen praktizierenden Katholiken geheiratet hatte, der noch dazu ihr Vetter war, hatte sich vollkommen auf ihre Rolle als Matrone zurückgezogen; als ein vollendetes Musterbeispiel der rechtdenkenden Bourgeoisie ging sie ihren Weg mit der Sicherheit jener großen Damen, die ihre Kenntnis der Etikette dazu benutzen, sie gelegentlich auch zu übertreten; so duldete sie bei ihren Kindern harmlosen Übermut. Diese Spontaneität Zazas, ihr natürliches Wesen spiegelten den stolzen Gleichmut ihrer Mutter wider. Ich war ungemein erstaunt gewesen, dass sie mitten in einem Klaviervorspiel ihr die Zunge herausstreckte; sie konnte aber auf ihr Verständnis offenbar unbedingt zählen. Über den Kopf des Publikums hinweg machten sich beide über die Konventionen lustig. Wenn ich irgendetwas Unangemessenes getan hätte, so hätte meine Mutter es mit tiefer Beschämung gespürt; mein Bedürfnis, mich anzupassen, war eine andere Form ihrer Schüchternheit.
Monsieur Mabille gefiel mir nur bedingt; er war zu verschieden von meinem Vater, der im Übrigen nicht mit ihm sympathisierte. Er hatte einen langen Bart und trug einen Kneifer. Jeden Sonntag ging er zur Kommunion und widmete einen großen Teil seiner Zeit wohltätigen Zwecken. Sein seidiges Haar und seine christlichen Tugenden gaben ihm in meinen Augen etwas Feminines und setzten ihn ein wenig herab. Zu Beginn unserer Freundschaft erzählte mir Zaza, dass er seine Kinder zum Tränenlachen brachte, wenn er ihnen laut und mit mimischer Begleitung
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