Memoria
Augen aufriss, den Mund, und ihr Schrei zerriss ihm die Ohren –
Und sie brach zusammen, hielt sich den Hals, aber das Blut quoll unaufhaltsam zwischen ihren Fingern hervor. Ihr entsetzter Blick war auf ihren Vater gerichtet –
Er war in einem Augenblick bei ihr, nahm sie in die Arme, drückte gegen den Schnitt in ihrem Hals, streichelte ihr Haar, versicherte ihr, alles werde gut –
Jetzt war seine Frau neben ihm, die atemlos schluchzte und verzweifelt versuchte, irgendwie zu verhindern, dass das Leben aus ihr heraussprudelte, und ihrer Tochter ein wenig Trost zu spenden –
«Helfen Sie uns», schrie Corliss. Tränen liefen ihm übers Gesicht. «Helfen Sie uns, verdammt.»
Navarro und seine Männer standen einfach nur da und sahen zu, wie Wendy in wenigen grausamen Sekunden das Bewusstsein verlor. Dann setzte die Atmung aus, und sie lag reglos in Corliss’ Armen.
Tot.
Er sah zu Navarro auf, völlig verständnislos, von Wut und Trauer überwältigt.
«Warum?», flüsterte er zwischen atemlosen Schluchzern. «Warum? Ich habe Ihnen gesagt, ich habe es nicht.»
In diesem Moment meinte er zu erkennen, dass Navarro ihm endlich glaubte. Zu spät.
Es spielte keine Rolle mehr.
«Ich habe Ihnen gesagt, ich habe es nicht», schluchzte er. «Warum mussten Sie das tun?»
«Vielleicht werden Sie es später verstehen», entgegnete Navarro kühl. «Im nächsten Leben.»
Diese drei Worte würde Corliss nie vergessen.
Mit einem Aufschrei kam er auf die Beine und stürzte sich auf Navarro.
Doch er erreichte ihn nicht. Er bekam den Mexikaner nie zu fassen.
Die Kugeln hinderten ihn.
Dreiundzwanzig Schüsse.
Damit endeten seine Erinnerungen an jene Nacht.
Er lag tagelang im Koma, Wochen auf der Intensivstation. Verbrachte Monate im Krankenhaus, Jahre in der Reha. Nach den ersten drei Monaten seiner Leidenszeit teilte man ihm mit, dass seine Frau sich das Leben genommen hatte. Das überraschte ihn nicht. Er hatte gesehen, wie sehr Wendys Tod ihr zusetzte und dass sie mit den Erinnerungen an jene Nacht nicht leben konnte. Jetzt war auch sie nicht mehr.
Er hatte beide verloren.
Aber Navarro war noch da, zog sorglos durchs Land und verübte zweifellos weitere Gräueltaten, verursachte Schmerz und Leid, wohin er auch kam.
Ein Monster auf freiem Fuß.
Anfangs war es Corliss selbst unbegreiflich, warum er überlebt hatte. Es war ihm unbegreiflich, warum er an dem Kugelhagel, der seinen Körper zerfetzt hatte, nicht gestorben war. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er daran gedacht, seinem Leben selbst ein Ende zu machen, um im Jenseits wieder mit seinen Mädchen vereint zu sein. Er hatte dauernd darüber nachgedacht, und ein paarmal war er kurz davor gewesen, es zu tun. Aber eines Tages begriff er.
Ihm wurde klar, dass er aus einem bestimmten Grund verschont geblieben war.
Er erkannte, dass er überlebt hatte, um zu tun, was getan werden musste.
Um das Monster zur Strecke zu bringen.
Um dafür zu sorgen, dass das Böse ausgelöscht wurde.
Um dafür zu sorgen, dass dieser Mann für seine Taten bezahlte.
Und jetzt, in diesem Augenblick, schien es, als gebe es eine Chance, dass das Monster endlich aus seinem Versteck kam. Nicht nur das – es war hier, hier in Amerika. In Kalifornien.
In Reichweite.
Corliss’ Arm senkte sich auf die Couch, das leere Whiskyglas entglitt seinen Fingern und rollte in die Polster. Und während er in Schlaf sank, klammerte er sich an einen Gedanken: Wenn das Monster je gefasst würde, wäre er derjenige, der ihm die Kehle aufschlitzen und zusehen würde, wie es seine letzten Atemzüge tat und starb, ganz langsam.
Hasta la vista,
Wichser.
Kapitel 49
Auf der polierten Holzveranda des Poolhauses mit Gipsverputz und Terrakottakacheln war das Monster damit beschäftigt, in den Tiefen seines Bewusstseins nach Antworten zu suchen.
Der Tag war nicht gut gelaufen.
Er hatte einen seiner Männer verloren. Von der Zielperson fehlte jede Spur. Und er sah keinen geraden Weg, der ihn zu seinem Ziel führte.
Er brauchte eine erleuchtete Sicht.
Eine Offenbarung.
Das Gebräu des blinden Peruaners würde ihm dazu verhelfen. Wie immer.
Er musste Reilly finden, aber das würde nicht leicht sein. Er konnte seine Männer nicht darauf ansetzen, ihm von dem einzigen Ort aus zu folgen, an den er unweigerlich kommen würde – der örtlichen FBI -Niederlassung. Nicht nach dem Fiasko beim letzten Versuch, bei dem die Biker ihr Leben gelassen hatten. Der Gegner war höchst
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