Memoria
Handeln zu entschuldigen. Sie wollte versuchen, es zu verstehen. Verstehen, dass in seinem Beruf, in den Situationen, in die er sich selbst in Ausübung seines Dienstes brachte, manchmal Entscheidungen für das Unmögliche getroffen werden mussten.
Und noch ein Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie wusste, dass McKinnon früher oder später von Navarro getötet worden wäre. Ihr war klar, dass das eine eigennützige Rationalisierung war, aber sie fand dennoch einen gewissen Trost darin. Dann rief sie sich noch etwas anderes ins Bewusstsein. Nachdem sie bis spät in die Nacht miteinander geredet hatten, hatte sie Reilly gefragt, ob es noch etwas gab, wovon er ihr nichts erzählt hatte. Ob es noch weitere Minen gab, die hochgehen und ihre Welt erschüttern konnten. Er versicherte ihr, es gebe keine. Das hatte sie ein wenig aufgebaut.
Dann wanderten ihre Gedanken zu dem Grund, weshalb dies alles geschah, und zu Alex. Sie musste wieder an die Zeichnung denken, daran, was seine Lehrerin ihr erzählt hatte, was er über die Blume gesagt hatte. Sie ging zurück ins Haus, nahm ihr iPad, das mit einer Firewall gesicherte Handy, das Jules ihr anstelle ihres iPhone besorgt hatte, und den Zettel mit der Nummer, die Reilly ihr gegeben hatte.
Als sie wieder im Garten war, rief sie die Nummer in Berkeley an.
Der Anrufbeantworter schaltete sich ein mit der Standard-Ansage, dies sei das Büro von Dean Stephenson, weder er noch seine Assistentin Marya seien momentan zu erreichen, und man könne eine Nachricht hinterlassen.
Tess wartete den Piepton ab, dann nannte sie ihren Namen und sagte: «Ich möchte gern Professor Stephenson sprechen. Es geht um Alex Martinez. Es ist … Ich muss Sie dringend sprechen. Alex’ Mutter ist …» Sie zögerte, unsicher, wie viel sie auf die Voicemail sprechen sollte. «Sie ist verstorben, und ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen, wie wir Alex in dieser schwierigen Zeit helfen können.» Sie schloss mit der Bitte um Rückruf, hinterließ ihre Nummer und bedankte sich.
Der Anruf hinterließ bei ihr ein unbehagliches Gefühl, das sie sich selbst nicht recht erklären konnte. Sie konzentrierte sich auf die andere Frage, die sie beschäftigte: was Alex seiner Lehrerin und ihr über die Blume auf seinem Bild erzählt hatte.
Sie startete den Browser und googelte «Brooks», den Namen, den Alex genannt hatte, zusammen mit «Pflanze» und «Herz». Die Suche ergab mehr als dreizehn Millionen Treffer. Nachdem sie die ersten paar hundert angeklickt hatte, ohne auf irgendetwas zu stoßen, das ihr relevant erschien, entschied sie, die Suche enger einzugrenzen.
Sie versuchte es noch einmal, diesmal mit einer anderen Schreibweise des Namens – «Brookes».
Gut vierunddreißig Millionen Treffer.
Tess runzelte die Stirn, kehrte zur ersten Schreibweise zurück und gab als Suchbegriffe «Brooks», «Pflanze», «Blume», «Herz», «Medizin», «Therapie» und «Tod» ein, außerdem schloss sie ein paar Namen aus, die bei ihrer ersten Suche aufgetaucht waren.
Jetzt hatte sie die Treffer auf die weniger entmutigende Zahl von dreihunderttausend reduziert, und so machte sie sich an die Arbeit.
Eine Stunde später stieß sie auf einen interessanten Link.
Es handelte sich um eine Meldung auf Web MD über ein vielversprechendes neues Herzmedikament. Ein Pharmaunternehmen hatte es groß angekündigt, aber gerade war die Erprobung eingestellt worden. Das Medikament, das auf einem Extrakt aus einer seltenen Blume basierte, schien anfangs gute Wirkung zu erzielen. Zwar war der Saft der Pflanze an sich giftig, jedoch waren darin mehr als zwanzig wertvolle Alkaloide nachgewiesen worden, und in der frühen Erprobungsphase hatte sich das daraus synthetisierte Medikament als wirksamer Cholesterol-Inhibitor erwiesen. Aufgrund dieser frühen Tests war der Aktienkurs des Unternehmens in die Höhe geschnellt. Zwei Jahre nach Beginn der Erprobungsphase jedoch hatte es schwere Rückschläge gegeben. Bei mehreren Patienten waren Komplikationen mit dem Herzen aufgetreten, die auf den Einsatz des Medikaments zurückgeführt wurden, und die Erprobung wurde gestoppt.
Tess googelte die Pflanze, die in dem Artikel genannt wurde.
Es war eine kleine, unscheinbare weiße Blüte. Dann fiel Tess noch etwas ins Auge: der natürliche Lebensraum der Pflanze.
Sie stammte aus dem Regenwald im Amazonasgebiet.
Tess überlief ein unbehagliches Prickeln, als ob unsichtbare Ameisen auf ihrer Haut herumkrabbelten.
Sie fragte sich,
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