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Memoria

Memoria

Titel: Memoria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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er. «Lasst mich gehen, dann töte ich die hier nicht.»
    Die Mall war leer bis auf zwei der Kreaturen, die etwa sechzig Meter entfernt im großen Innenhof auf ihn warteten.
    Torres machte einen Schritt nach vorn, aber dann fühlte er, wie seine Geisel ihr Gewicht verlagerte, als wolle sie ihn hindern weiterzugehen. Er richtete den Blick auf die Kreatur. In ihrem Genick stachen riesige, rasiermesserscharfe Knochen durch die Haut. Aus den Enden der Arme wuchsen lange Klauen. Federn bedeckten den Körper. Die Gesichtszüge lösten sich auf, und ein gezahnter Schnabel brach aus dem Fleisch hervor. Er ließ die abscheuliche Kreatur los, hob seine Waffe und drückte ab. Oder er glaubte abzudrücken. Er hatte jedenfalls den Abzug drücken wollen, aber irgendwie war es ihm nicht gelungen. Vielleicht hatte es etwas mit der Dunkelheit zu tun, die seinen Kopf erfüllte.
    Er nahm noch wahr, wie seine Beine unter ihm nachgaben.
    Der Boden fühlte sich unter seinen Stiefeln wie Treibsand an, und während er fiel, fragte er sich, ob er jetzt endlich schlafen durfte.
     
    Ich beobachtete mit angehaltenem Atem in der Übertragung von der Helmkamera des leitenden Scharfschützen, wie Torres zu Boden ging. Die Kugel hatte ihn seitlich in den Kopf getroffen, dicht vor dem rechten Ohr. Die Frau, die er noch Sekunden zuvor als Schutzschild benutzt hatte, brach in Hysterie aus, aber sie lebte.
    Das hatte oberste Priorität.
    Ich hatte keine Ahnung, warum Torres sie losgelassen hatte, aber dadurch hatte der Scharfschütze freie Schusslinie. Und er konnte nicht anders, als zu schießen, denn es war klar, dass Torres im Begriff war, seine Geisel zu töten.
    Mir war vollauf bewusst gewesen, dass das Geiseldrama wahrscheinlich mit Torres’ Tod enden würde. Aber dieses Wissen machte die Sache nicht besser. Navarro hatte wieder einmal ein Blutbad verursacht, und der einzige Mann, der uns auf seine Spur hätte bringen können, war tot.
    Ich fragte mich, warum Navarro einen bewaffneten Ex-Marine auf einem schlechten Trip in eine belebte Mall geschickt hatte. Andererseits, nach allem, was ich in den vergangenen Tagen erfahren hatte, war offensichtlich, dass Navarro es genoss, Chaos und Tod zu verursachen. Und das hier würde sicher nicht das letzte Mal sein.

Kapitel 54
    Tess hatte nicht gut geschlafen. Sie war überreizt und wütend, und in ihr rangen Fluten starker Emotionen miteinander. Hinzu kam, dass sie sich fühlte wie ein eingesperrtes Tier, das gegen die Fesseln des sicheren Unterschlupfs ankämpfte. Sie konnte nicht einmal aus dem Haus gehen, um zu joggen oder sich einfach eine Tasse Kaffee für die Seele zu gönnen.
    Sie hatte bereits ihre Mutter angerufen und auch mit Hazel und Kim gesprochen, wobei sie ihnen eine beschönigte Version der tatsächlichen Vorgänge vermittelte und sie bat, wachsam zu sein. Sie versuchte, die drei nicht zu sehr zu ängstigen, aber ihr war selbst klar, dass ihr das natürlich nicht gelang. Es war nicht das erste Mal, dass sie in eine heikle Situation geriet, auch wenn sie diesmal selbst keinerlei Schuld daran trug. Wie auch immer, sie war froh, das Telefongespräch hinter sich zu haben. Es war eben unvermeidlich gewesen.
    Jules beschäftigte Alex im Wohnzimmer. Es war ein Geniestreich von ihr gewesen, ihn über ihr Notebook bei Club Penguin zu registrieren. Nach seinem Kichern und Quietschen zu urteilen, amüsierte er sich prächtig. Tess hatte die beiden nach dem Frühstück allein gelassen. Sie brauchte etwas Zeit für sich. Jetzt saß sie im Garten hinter dem Haus im Gras, mit dem Rücken an den Stamm einer einsamen Platane gelehnt, und war tief in Grübeleien versunken.
    Ihre Gedanken kreisten immer noch um das, was Reilly ihr am Vorabend erzählt hatte. Anfangs war sie entsetzt gewesen, egal wie sie es auch drehen und wenden mochte. Dann, in der Nacht, hatte sie stundenlang versucht, sich in seine Lage zu versetzen, das Geschehene aus seiner Sicht nachzuvollziehen. Sie hatte sich gefragt, was sie an seiner Stelle getan hätte, und ihr war klargeworden, dass sie es nicht wissen konnte. Für einen Unbeteiligten war es leicht, ein schnelles Urteil zu fällen. Das war etwas völlig anderes, als wenn man selbst dort war, mitten im Geschehen, im Kugelhagel, umzingelt von Männern, die einen töten wollten, und unter dem Druck stand, in Sekundenbruchteilen eine Entscheidung zu treffen. Abzuwägen zwischen den eigenen moralischen Instinkten und der Bedrohung für das Gemeinwohl. Es ging ihr nicht darum, sein

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