Memoria
entgangen waren oder die er nicht weiter beachtet hatte, mit berauschender Klarheit.
Die Droge hatte gewirkt wie ein Zauber. Er wusste, dass sie das vermochte. Er hatte von den Besten gelernt, seit er im frühen Teenageralter seine lebenslange Faszination für das entwickelt hatte, was Ethnopharmakologen die «Medizin des heiligen Geistes» nannten.
Diese Faszination war ihm später zustattengekommen.
Denn wie alle Kinder war Raoul Navarro in der Überzeugung aufgewachsen, dass es Zauberei gab. Anders als andere hatte er allerdings nie aufgehört, daran zu glauben.
Er war in Real de Catorce aufgewachsen, einem Dorf mit steilen, kopfsteingepflasterten Straßen und heruntergekommenen spanischen Kolonialhäusern an einem Berghang in einer der höchstgelegenen Hochebenen Mexikos. Während eines Silberrausches vor hundert Jahren erbaut und danach verlassen, besaß Real einen einzigen entscheidenden Vorzug: Es war das Tor zur Wüste Wirikuta, jener Landschaft, die den Huicholen, einem Indiovolk, heilig war und wo sie den Peyote-Kaktus ernteten. Es war ein Ort, wo ein mittelloser Junge wie Navarro sich ein paar Dollar verdienen konnte, indem er die kleinen, knopfähnlichen Triebe dieser Kakteen suchte, die versteckt unter Mesquitesträuchern wuchsen, und sie an
primeros
verkaufte, Touristen, die ihren ersten Peyote-Rausch erleben wollten. Doch Navarro gab sich nicht damit zufrieden, sie nur zu verkaufen. Er war neugierig darauf, was Peyote tatsächlich bewirkte, und er brauchte nicht allzu lange zu warten, bis er es erfuhr. Kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag verband ein Huicholen-Schamane ihm die Augen und führte ihn in die Wüste, und er wurde selbst ein
primero.
Diese Erfahrung veränderte sein Leben.
Sie lehrte ihn, dass die Geister überall waren, jede seiner Bewegungen verfolgten, und er beschloss, dass er alles über sie erfahren wollte.
Er hielt sich viel bei den Schamanen auf, brachte sich selbst das Lesen bei und verschlang schließlich alles, was er in die Hände bekam, von den Werken Carlos Castanedas bis hin zu den Schriften der großen Psychopharmakologen und Ethnobotaniker. Als jedoch die wirkliche Welt sich als kalt und gnadenlos erwies, geriet er auf denselben unausweichlichen Weg wie so viele seinesgleichen. Er wurde in den Strudel der Gewalt hineingezogen, der ihn am Totempfahl des Drogenhandels aufwärts führte – und er stellte fest, dass ihm dieses Leben gefiel. Nicht nur das, er hatte eine Begabung dafür. Und indem er an Macht und Reichtum gewann, konnte er seiner Faszination noch mehr frönen.
Sobald er über die nötigen Mittel verfügte, begann er durch Mexiko zu reisen und dann weiter in den Süden, in die Dschungel und Regenwälder von Guatemala, Brasilien und Peru, wo er sich mit Anthropologen anfreundete und isoliert lebende Stämme aufsuchte, die viel Zeit und Energie darauf verwandten, die unsichtbaren Sphären der Götter und Geister und die verschlungenen Pfade durch die Zeit in unsere Vergangenheit und Zukunft zu begreifen. So wie wir es tun, um die Rätsel der globalen Erwärmung und der Nanotechnologie zu entschlüsseln.
In seinem ständigen Bestreben, Pforten zu neuen Bewusstseinsdimensionen zu öffnen und zu neuen Höhen der Erleuchtung aufzusteigen, verwandte Navarro viel Zeit und Geld darauf, sich den verschlossenen Heilern und Schamanen der Indiostämme anzunähern und ihr Vertrauen zu gewinnen. Unter ihrer Anleitung experimentierte er mit unterschiedlichsten psychoaktiven Substanzen und Entheogenen. Dabei handelte es sich hauptsächlich um aus Pflanzen hergestellte Tränke, die eine wichtige Rolle in den religiösen Praktiken der jeweiligen Stammeskultur spielten. Navarro begann mit relativ leicht zugänglichen, vor Ort verfügbaren bewusstseinsverändernden Substanzen wie psilocybinhaltigen Pilzen und
salvia divinorum,
wobei ihn mazatekische Schamanen in den abgeschiedenen Nebelwäldern der Sierra Mazateca unterwiesen. Später ging er zu weniger bekannten, stärker wirkenden Halluzinogenen wie
ayahuasca
über, der Seelenranke;
iboga,
der heiligen, Visionen erzeugenden Wurzel; zu
borrachero
und anderen Substanzen, in deren Genuss kaum jemals Außenstehende kamen. Navarro reiste sogar bis nach Afrika, drang tief ins Inland von Gabun und Kamerun vor, um an den
Ngenza-
Zeremonien der Bwiti teilzunehmen, wo er lernte, mit den Geistern seiner Ahnen zu kommunizieren. Doch sein Ausgangspunkt war ein düsterer. Seine Seele war bereits dem Bann der Gewalt verfallen, von
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