Memoria
würde. Ich schaute nach ihm, sah ihn eingerollt in seiner Kinderbettwäsche liegen, umgeben von Plüschtieren und Spielzeugfiguren, und er erschien mir ruhiger als am vergangenen Abend.
Tess war für alle eine Wohltat.
Ich schickte Jules nach Hause und begleitete sie zur Tür. Nachdem sie das ganze Wochenende im Einsatz gewesen war, brauchte sie mal wieder etwas Zeit für sich. Dann bestellte ich beim Zimmerservice ein Club Sandwich, erleichterte die Minibar um ein paar Dosen Bier, reichte Tess eine und ließ mich mit ihr auf der Couch nieder.
Während ich das Sandwich verschlang, berichtete ich ihr in Kurzfassung von meinem Tag, erzählte, was wir im Clubhaus vorgefunden hatten, wobei ich die grausigen Details ausließ. Tess von den Ereignissen des Tages zu erzählen, half mir immer, Abstand zu gewinnen und alles aus einem weiteren, klareren Blickwinkel zu betrachten. So traten die Schlüsselfragen, denen ich nachgehen musste, oft deutlicher hervor.
Fragen wie: Warum hatten sie mich verfolgt? Warum hatten sie Scrape mitgenommen und nicht auf der Stelle erschossen? Aber die größte Frage war natürlich: Wer hatte die Biker umgebracht? War es derselbe, der sie auf Michelle und/oder die Person, die im Keller gefangen gewesen war, angesetzt hatte, oder standen die Morde in keinem Zusammenhang damit? Das zeitliche Zusammentreffen und mein Bauchgefühl sprachen dafür, dass es einen Zusammenhang gab, also ging ich bis auf weiteres davon aus. Damit war eine andere Frage neben dem Wer das Warum. Waren sie gierig geworden, hatte es Streit um die Bezahlung gegeben? Waren sie ihrem Auftraggeber lästig geworden, und wenn ja, warum? Hatten sie versagt – was bedeutet hätte, dass es ein Fehler war, Michelle zu töten? Andererseits wussten sie vielleicht gar nicht, dass sie tot war. Dann kam mir der Gedanke, dass ihr Auftraggeber womöglich einfach keine Verwendung mehr für sie hatte. Dass sie mich am vergangenen Tag verfolgt hatten, zeigte, dass sie das, worauf sie aus waren, noch nicht hatten. Vielleicht hatte ihr Hintermann beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wenn man sah, was Eli Walker durchgemacht hatte, war dieser Gedanke nicht gerade beruhigend.
Als ich geendet hatte, erzählte Tess mir von ihrem Tag. Ich schaltete innerlich einen Gang herunter und ließ mich mit dem Strom ihrer Erzählung treiben, lauschte ihrer Stimme, beobachtete ihren lebhaften Gesichtsausdruck. Dann runzelte sie die Stirn, und ihr Gesicht nahm diesen forschenden Ausdruck an, zu dem ich eine echte Hassliebe entwickelt hatte – Liebe, weil es einen Teil von Tess Chaykins Anziehung ausmachte, dass sie sich in Fragen verbiss und nicht lockerließ, und das Gegenteil, nun ja, weil das gewöhnlich Scherereien mit sich brachte. Sie stand von der Couch auf, ging ins Schlafzimmer und kehrte mit ein paar Bögen Papier zurück, die sie mir zeigte. Es waren Kinderzeichnungen, die sie auf Michelles Schreibtisch zwischen ihren Papieren gefunden hatte.
«Von Alex?», fragte ich.
«Ja, anscheinend. Sie sind vom Stil her ähnlich wie die anderen im Haus.»
Ich sah sie durch. Ohne mich dumm stellen zu wollen – ja, sie waren ganz nett, aber viel mehr hätte ich nicht dazu sagen können. Tess hingegen wurde ganz eifrig.
Sie zog eins der Bilder hervor und legte es zuoberst. «Was siehst du hier?»
Ich bemühte mich, etwas zu erkennen. «Zwei mehr oder weniger menschenähnliche Gestalten. Oder vielleicht sollen es Außerirdische sein?»
Sie warf mir einen Blick zu. «Menschen, du Blödmann. Zwei Menschen. Und ich glaube, das hier ist Alex», sagte sie und zeigte auf die rechte Gestalt. «Das Ding, das er da in der Hand hält, das ist seine Ben-Figur, sein Lieblingsspielzeug. Er hat mich gebeten, sie ihm von zu Hause mitzubringen.»
Ich erkannte nichts. «Hast du ihn danach gefragt?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
Sie zog die Nase kraus, was sie immer besonders anziehend machte. «Das ist kein fröhliches Bild.»
«Kein fröhliches Bild. Warum nicht? Weil keine Regenbogen und Schmetterlinge drauf sind?»
Ich liebe es, sie aufzuziehen.
«Sieh dir sein Gesicht an», beharrte sie. «Der offene Mund, die großen Augen. Für mich sieht es aus, als hätte er Angst. Und diese andere Gestalt, die ihm gegenübersteht. Die dunkle Kleidung. Etwas, das sie in der Hand hält.»
«Voldemort? Oh, Verzeihung, den Namen darf man ja nicht aussprechen, stimmt’s?»
Wieder dieser Blick, Tess war jetzt aufs äußerste gereizt. Ja, so sieht unser
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