Memoria
Vorspiel aus. Traurig, aber, na ja, es funktioniert.
«Ich meine es ernst. Ich denke, da ist etwas. Vielleicht eine Pistole.»
Ich betrachtete noch einmal das Bild. Es konnte eine Pistole sein. Es konnte allerdings so ziemlich alles sein, was man hineinsehen wollte, denn die krakelige Gestalt, die es hielt, war so weit vom Aussehen eines echten Menschen entfernt, dass Picassos Figuren im Vergleich dazu naturgetreu wie die von Norman Rockwell waren.
«Kinder spielen ständig Soldat oder Cowboy oder jagen Aliens. Jungs sind eben so. Und selbst wenn diese Gestalt ihn darstellen soll … dann ist der andere vielleicht einfach irgendeine Zeichentrickfigur oder ein Freund von ihm, wer weiß. Das könnte alles sein.»
«Und warum lag dieses Bild dann auf Michelles Schreibtisch zwischen ihren Papieren und hing nicht wie die übrigen in der Küche oder in Alex’ Zimmer an der Wand?»
Darauf fiel mir keine Antwort ein – oder, wenn ich ehrlich war, mir fielen viel zu viele Antworten darauf ein. Außerdem war mein Gehirn durch das wirkliche Leben schon reichlich überstrapaziert. Die Höhenflüge von Alex’ Phantasie, so nett und ansprechend sie sein mochten, mussten warten.
«Ich habe keine Ahnung», erwiderte ich schlicht, nahm Tess die Bilder aus der Hand und legte sie auf den Beistelltisch. Dann drehte ich mich herum, drückte Tess gegen die Rückenlehne der Couch und küsste sie begierig. Gleich darauf wurde mir bewusst, wo wir uns befanden, und ich wich zurück. Ich stand auf und streckte ihr die Hand entgegen.
«Wollen wir das nicht lieber in meinem Büro besprechen?»
Während Tess Reilly ins Schlafzimmer folgte, konnte sie nicht aufhören, über die Zeichnung nachzudenken.
Vielleicht hatte Reilly recht. Vielleicht deutete sie zu viel hinein.
Nur dass dieser lästige kleine Dämon der Neugier, der in den dunklen Winkeln ihres Verstandes lauerte, keine Ruhe gab und ständig ihre Aufmerksamkeit forderte.
Der Dämon plagte sie noch immer, als sie die Tür hinter sich schloss und fühlte, wie Reilly sie herumdrehte und gegen die Wand drückte. In der folgenden Stunde dachte sie allerdings nicht mehr daran, aber später, während sie in Reillys Armen einschlief, war der Dämon wieder da, tobte und wütete, um sich Beachtung zu verschaffen.
Kapitel 28
Weiter nördlich an der Küste jagte ein Dämon gänzlich anderer Art durch gänzlich andere Gefilde.
Navarro war in seine abgeschiedene Villa am Strand von Del Mar zurückgekehrt, wo er mit gekreuzten Beinen auf einer polierten Teakholzveranda hinter dem Poolhaus saß. Das Meer lag nur einen Steinwurf entfernt vor ihm, und der tief stehende Mond schien auf ihn herab wie eine Verhörlampe, während er einfach nur ruhig und gelassen dasaß –
äußerlich
ruhig und gelassen.
In seinem Inneren sah es völlig anders aus.
Bereits seit mehr als einer Stunde trieb er durch flammende Tunnel und Abgründe endloser Finsternis, fiel und stieg und wirbelte durch Kaleidoskope aus Farben und surreale Visionen aus seiner Vergangenheit und seiner Zukunft.
Natürlich hatte er das schon früher erlebt.
Viele Male.
Bei Menschen, die nicht daran gewöhnt oder nicht in der Lage waren, die Wirkung zu beherrschen, hätte das braune, schlammige Gebräu, das er eingenommen hatte, verheerende Wirkungen haben können, sowohl unmittelbar – Erbrechen, Einnässen, Todesangst, Schreien und Flehen, aus diesem schier endlosen Grauen errettet zu werden – als auch längerfristig. Navarro jedoch wusste, was er tat.
Er hatte dieses besondere psychoaktive Gebräu erstmals im peruanischen Hochland eingenommen, vor langer Zeit, und ein blinder Schamane hatte ihn in dessen Gebrauch unterwiesen. Die geistige Klarheit, die es ihm verschaffte, war anfangs überwältigend, aber er hatte gelernt, sie zielgerichtet einzusetzen, und mit jedem Mal verstand er, sie besser zu nutzen.
Er wich vor dem Rand des Abgrunds zurück und stürzte sich in ein blendend weißes Licht. Sein Kopf war unglaublich klar. Sein Atem ging langsamer, beruhigt durch den inneren Frieden, der aus seinem tiefsten Inneren aufstieg, und er schlug die Augen auf.
Großartig.
Er sog tief die Meeresluft ein und hielt einen langen Moment den Atem an, genoss die neu geweckte Überempfindlichkeit gegenüber allen äußeren Eindrücken. Die Wellen, die an den Strand schwappten, die Grillen in den Bäumen – er hörte sogar die Krebse über den Sand kriechen. Und vor seinem geistigen Auge sah er jetzt Dinge, die ihm bisher
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