Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
diese Nächte, ja, ich hasse sie wirklich, in letzter Zeit sind sie noch schlimmer als die Tage.
»Ich gehe eine Runde«, sagte Walter. »Ich muss mir die Beine vertreten und brauche Zigaretten, verflucht, dass es so schwer ist, das hier hinzukriegen.«
»Was hinzukriegen?«, fragte Kristina und füllte ihr eigenes und Henriks Weinglas aus der zweiten Flasche, die Walter aus der Küche geholt hatte. Verschüttete ein paar Tropfen auf dem Tisch. Mein Gott, ich bin betrunken, dachte sie. Das ist jetzt aber das letzte Glas.
Aber es war ein schönes Gefühl. Wenn sie sich recht besann, war sie nicht mehr betrunken gewesen, seit sie mit Kelvin schwanger war. Zwei Jahre, nein, mehr, zweieinhalb, kein Wunder, dass es sich so freudvoll und neu anfühlte.
Und merkwürdig, dass es ausgerechnet heute Abend sein soll.
»Die Heimkehr«, sagte Walter. »Es ist das Phänomen Heimkehr, von dem ich rede. Dieser ganze verfluchte Familiensumpf... ja, das betrifft natürlich dich nicht, Henrik. Du weißt, was ich meine, Kristina.«
»Natürlich«, nickte Kristina. »Du meinst wohl Meine Familie ?«
Walter lachte auf. Das war ein Klassiker. Man schrieb das Jahr 1983. Ebba war 18 und ging in die letzte Klasse des Gymnasiums. Walter war 13. Kristina war neun, ging in die dritte Klasse und hatte die Hausaufgabe bekommen, einen Aufsatz mit der Überschrift Meine Familie zu schreiben.
Meine Familie ist wie ein Gefängnis. Papa ist der Gefängnisdirektor. Mama ist die Köchin. Meine Schwester Ebba, die in letzter Zeit so dick geworden ist, dass sie nicht mehr in ihre Jeans passt, ist Gefängniswärterin, und mein Bruder Walter und ich, wir sind die Gefangenen. Wir sind unschuldig verurteilt worden, müssen aber lebenslänglich einsitzen.
Jeden Tag bekommen wir Freigang, um in ein anderes Gefängnis in der Nähe zu gehen, das Kymlingschule heißt, und hier gibt es viele andere Gefangene und Gefangenenwächter. Es ist ganz nett hier, nicht so streng.
Papa, der Gefängnisdirektor, ist ein widerlicher Teufel und trägt immer Schlips und Kragen, nur sonntags nicht, dann trägt er sein Hemd offen. Mama, die Köchin, hat Angst vor ihm und tut alles, was er sagt. Das tun wir anderen auch, sonst schlägt er uns mit einem dicken Knüppel mit Nägeln dran.
Meine Schwester, die Gefangenenwärterin, umschmeichelt ihn und ist auch ein widerlicher Teufel. Manchmal kann sie nett zu uns Gefangenen sein, aber immer nur, wenn einer von uns Geburtstag hat.
Sobald Walter und ich groß genug sind, werden wir ausbrechen und vor dem Kinderschutzbund von unserer Familie berichten. Und vor dem König und Königin Silvia auch, die ja die Beschützer aller misshandelten Kinder sind. Der König wird auf seinem weißen Esel angeritten kommen, Mama, Papa und Ebba totschlagen und Walter und mich aus der Gefangenschaft befreien. Wir werden bis ans Ende aller Tage und Zeiten glücklich leben.
Das stimmt, das stimmt, das stimmt.
Der Aufsatz hatte eine gewisse Aufregung nach sich gezogen. Es war Mitte der Achtzigerjahre, Schulpsychologen und Sozialarbeiter besuchten Kurse und lernten die Sage von der DUN-KELZIFFER kennen. Mindestens zwei Fälle von Inzest in jeder Klasse war die klare Botschaft. Mindestens drei weitere Fälle grober Misshandlung, man musste sie nur aufdecken. Die gesamte Familie Hermansson wurde zu einem Gespräch geladen; es fand im pastellfarbenen Büro der Sozialarbeiterin statt und wurde von Kristinas Klassenlehrerin eingeleitet, einer kräftigen Person aus der Gegend von Landskrona – die später die Lehrerlaufbahn beendete und Schwedens erster weiblicher Kampftaucher wurde -, indem sie Kristinas Aufsatz vorlas.
Mama Rosemarie fiel in Ohnmacht. Papa Karl-Erik Musterpädagoge begann zu schielen und zu stottern, Ebba war diejenige, die die Situation rettete, indem sie laut loslachte, ihre kleine Schwester umarmte und erklärte, dies sei das Verrückteste, das sie in ihrem ganzen Leben gehört habe.
Kristina gab zu, dass sie in dem Moment, als sie den Aufsatz schrieb, wütend war, weil sie eine Fernsehsendung über Massenmörder und Vergewaltiger in New York nicht hatte sehen dürfen, und dass sie deshalb ein wenig übertrieben habe.
Walter bekam überhaupt nicht die Gelegenheit, sich zu äußern, aber als Mama Rosemarie aus ihrer Ohnmacht erwachte, war alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die Sozialarbeiterin war zufrieden, die Schulleiterin war zufrieden, und die zukünftige Kampftaucherin war zumindest soweit zufrieden, wie es in ihren
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