Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
dass ich einen Plan habe.
Den ganzen Abend über hatte er Jeanette Andersson kaum einen Gedanken gewidmet, aber als er jetzt in die Fabriksgatan einbog, begriff er plötzlich, dass sie ja hier wohnte. Nummer 26, oder?
Warum nicht?, dachte Walter Hermansson.
Es war zwar schon zwanzig Minuten nach eins, aber es war ja nicht gesagt, dass sie morgen aufstehen und zur Arbeit gehen musste. Er holte seine Brieftasche heraus und fand den Zettel mit ihrer Telefonnummer.
9
E r ist so ein hübscher Junge, dachte Kristina. Ich hoffe nur, er kommt gegen seine Mutter an. Aber wieso mache ich mir deshalb Gedanken?
»Bist du glücklich, Henrik?«, fragte sie.
Das war die Art von Fragen, die sie kraft ihrer Stellung fragen durfte. Seine Freiheitstante. Er selbst hatte diesen Begriff geprägt; vor mehreren Jahren war das gewesen, als sie ein paar Sommerwochen gemeinsam in Skagen verbracht hatten. Ebba und Leif hatten für einen ganzen Monat ein Riesenhaus gemietet, aber Ebba hatte fast die Hälfte der Zeit Konferenzen zu führen und chirurgische Arbeiten zu erledigen, und so war Kristina als eine Art Ersatzmama für die Jungen eingesprungen. Henrik war zwölf gewesen, Kristoffer sieben. Kristina, weißt du, was du bist?, hatte er eines Tages gesagt, als sie am Strand waren, Sandburgen bauten und Coca Cola tranken. Du bist meine herrliche, gute Freiheitstante! Und er hatte sie umarmt, dass ihr fast die Luft wegblieb, und anschließend hatten sie alle drei miteinander gerungen, dass der Sand spritzte und die Burg in Ruinen zerfiel. Mit vereinten Kräften hatten Henrik und Kristoffer ihre Freiheitstante auf den Rücken gezwungen, ihr auf den Nabel gepustet und sie schließlich in tausend Tonnen Sand vergraben, so dass nur noch ihr Kopf herausguckte.
Das muss ein schöner Sommer gewesen sein, dachte sie überrascht. Aber vielleicht ist es auch nur die übliche Retusche der Erinnerung, die sich hier zeigt.
»Ich weiß nicht«, antwortete Henrik. »Nein, ich glaube, ich bin nicht besonders glücklich.«
»Das habe ich dir angesehen. Du weißt, ich höre zu, wenn du über etwas reden möchtest.«
Er saß da und drehte sein Weinglas. Wahrscheinlich war er leicht betrunken, er auch, aber das konnte doch wohl kaum ein unbekannter Zustand für ihn sein? Doch nicht nach einem ganzen Semester in Uppsala. Neunzehn Jahre, dachte sie. Zwölf Jahre jünger als sie selbst, und kein besonders erstrebenswertes Alter, wenn sie in ihren eigenen Rückspiegel schaute. Also, was stimmte da nicht? Hatte er keine Freunde? Ging das Studium den Bach runter? Drogen? Oder hatte er sich nur mit dieser Freundin überworfen? Ebba hatte erzählt, dass Henrik eine Freundin habe, die Medizin studiere.
»Hast du Prüfungen verhauen?«, versuchte sie ihm auf die Sprünge zu helfen.
Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine. Wir haben die Hauptprüfung erst im Januar.«
»Dann musst du während der Ferien wohl reichlich lernen, oder?«
»Das ist eher vorlesungsfreie Zeit als Ferien.«
»Ach so. Aber du meinst, du schaffst es? Dass du im Herbst alles mitgekriegt hast und so?«
Er nickte. Es kam ihr in den Sinn, er könnte sie vielleicht für einfältig halten. Dass es einfältig wäre, Super-Henrik zu fragen, ob er sein Studium schaffe.
»Und du hast dir das richtige Fach ausgesucht?«
»Ich denke schon.«
Nein, das war es nicht, wo der Schuh drückte. Trink noch ein bisschen Wein, mein lieber Neffe, dachte sie, damit du dich traust, mir zu erzählen, was dich bedrückt. Sie hob leicht verschmitzt lächelnd ihr eigenes Glas. Zwinkerte ihm mit einem Auge zu.
Er trank einen Schluck. Warf ihr plötzlich einen Blick mit einer neuen Art von Energie zu. Schätzte sie ab und schien ein paar Sekunden lang auf des Messers Schneide mit seinem Entschluss zu stehen. Plötzlich fiel es schwer, sich vorzustellen, dass er erst neunzehn Jahre alt war.
»Da ist eine Sache, über die ich, glaube ich, nicht reden kann«, sagte er schließlich. »Tut mir leid, aber so ist es nun einmal.«
»Nicht einmal mit mir?«, fragte sie. »Nicht einmal mitten in der Nacht?«
Er gab keine Antwort.
»Nun ja, ich hoffe nur, dass du jemanden hast, zu dem du Vertrauen hast, falls es etwas Ernstes ist. Damit du es nicht in dich hineinfrisst.«
Blöde Illustriertenpsychologie, dachte sie. Ich klinge ja wie eine Sozialarbeiterin aus der Schule. Sie betrachtete ihn. Er hatte den Blick gesenkt. Die Hände gefaltet, vor sich, seine langen, kräftigen Pianistenfinger, und saß
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