Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Möglichkeiten stand, sie legte gerade in dieser Beziehung eine gewisse Schwäche an den Tag. Karl-Eriks Stammeln ging auch vorüber, wohingegen ihm das Schielen noch ein paar Tage anhing. Es wurde spekuliert, ob er eventuell eine leichtere Gehirnblutung gehabt haben könnte.
»Da hast du die Sache auf den Punkt gebracht«, sagte Walter. »Ich gehe mal kurz raus, wie gesagt. Wir sehen uns morgen, sitzt nicht mehr zu lange hier rum und grübelt.«
»Ich werde bald ins Bett gehen«, sagte Kristina.
»Ich auch«, sagte Henrik.
Es war fünf Minuten nach eins, als er den Marktplatz erreichte. Schön, dachte er. In diesen Gegenden gibt es um diese Uhrzeit keine Menschenseele mehr draußen. Niemanden, vor dem man den Blick senken muss, ja, ja, der Wanderer in der Nacht … und so weiter.
Dennoch beschlich ihn ein wohlvertrautes Gefühl, als er vor dem dunklen Eingang des Royalkinos stehen blieb und sich umschaute. Feuchte Polster und unterdrückte Gefühle. Diese Ecke der Ewigkeit war die ersten zwanzig Jahre der Nabel seines Lebens gewesen, kein Wunder, wenn er dabei Schaden genommen hatte. Kein Wunder, dass es den Bach runtergegangen war.
Er sah ein, dass es nach Selbstmitleid roch. Natürlich. Den äußeren Umständen der Kindheit die Schuld an der inneren Leere des Erwachsenenlebens zu geben, das konnten die gescheiterten Seelen ausgezeichnet, das war nichts Neues. Alle mussten schließlich irgendwo geboren sein. Und sich zu erheben, das zu lernen war allen gestattet. Er rechnete aus, dass er seit eineinhalb Jahren nicht mehr daheim gewesen war, und gleichzeitig wunderte er sich, wieso er es immer noch »daheim« nannte. Ein schwarzes Loch, das nie seine Anziehungskraft verloren zu haben schien, aber vielleicht ging es ja allen so? Es ging nur darum, sich nicht hineinziehen zu lassen. Es ging darum, die Distanz zu wahren. Er zündete sich eine Zigarette an und begann, die Badhusgatan hinaufzugehen. Was war dort auf dem Parkplatz mit ihm passiert? Was? Man konnte doch wohl nicht aus reiner Angst sterben? Nur durch Taten, die unter dem Einfluss von Angst ausgeübt wurden. Oder war es ganz einfach ein psychischer Kollaps gewesen? Fühlte der sich so an? Er war ja tatsächlich in Ohnmacht gefallen. Konnte es einem so schlecht gehen, dass man ganz einfach das Bewusstsein verlor? In dem Fall dann sicher kein dummer Verteidigungsmechanismus. Zu schlafen, nur zu schlafen, wie gesagt, um die Welt und die eigene Jämmerlichkeit zu vergessen.
Er hatte Mama Rosemarie den ganzen Abend nicht in die Augen gesehen. Den anderen auch nicht sehr oft, vielleicht überhaupt nur Kristina. Sie hatte die richtigen Worte gefunden, als sie draußen miteinander geredet hatten, daran bestand kein Zweifel: Du bist ein verdammtes Schwein, Walter, und ich liebe dich. Alle anderen hatten versucht, an einer bequemen Rettungsboje zwischen Schwein und Liebe anzudocken, allein Kristina hatte Größe genug, beide Extreme zu umfassen. Und auf alles dazwischen zu pfeifen. Ihm kam in den Sinn, dass auch Paula so eine Frau gewesen war. Eine Frau, die sowohl mit dem Dreck als auch mit der Schönheit vertraut war. Mit dem schmutzigen Goldglanz des Daseins, Hure und Madonna … die Worte wirbelten haltlos in seinem Kopf herum, das lag natürlich am Whisky und dem Wein, er erreichte den Norra Kungsvägen, blieb eine Weile stehen und betrachtete den schönen alten Wasserturm. Rotbraune Ziegelsteine, vollkommen rund, wenn man doch alle hässlichen Wassertürme hier im Land einreißen und stattdessen solche bauen könnte. Mit ganz normalen kleinen Fenstern hier und da und einem patinierten grünen Kupferdach, das dürfte doch nicht so schwierig sein? Das wäre eine Welt, in der man leben könnte, dachte Walter, in einer Welt mit runden, rotbraunen Ziegelsteinwassertürmen könnte ich mich zu Hause fühlen.
Mit einer neuen Paula. Das bräuchte er, das wäre die Rettung. Und es sollte ja wohl nicht unmöglich sein, eine neue Frau zu finden, wenn er für drei Monate auf die Kanarischen Inseln fuhr? Da wimmelte es doch nur so von alleinstehenden Frauen. Gleichzeitig könnte er den alten, vielversprechenden Roman fertigschreiben, während er seine letztendliche Madonnahure fand, ja, es war weiß Gott an der Zeit. Beides. Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging Richtung Kirche. Morgen werde ich meiner Mutter in die Augen sehen, beschloss er. Ihr sagen, dass sie nicht über verschütteten Samen (ich meine Milch, verdammt noch mal, Milch!) weinen soll,
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