Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
sein Bewusstsein durchscheinend wie ein frisch getauter Eisfleck. Dann begriff er, was er tun musste, um sich Klarheit zu verschaffen. Blitzschnell, fast bevor er sich überhaupt die Frage stellen konnte. Er schaute auf die Absendernummer, prägte sie sich ein und klickte sich durch zum Adressbuch. Dort begann er, unter A zu blättern, Henrik machte es offensichtlich genau wie er selbst: Er ging nach den Vornamen, verzichtete auf die Nachnamen. Kristoffer sprang direkt zu J, und dort, dort fand er es. Er starrte auf das kleine erleuchtete Display und wollte seinen Augen nicht trauen.
Jens , stand da.
Jens. Die Nummer stimmte.
Das gibt’s ja wohl nicht, dachte Kristoffer Grundt.
Es gab gar keine Jenny.
Es gab nur einen Jens. Henrik war gar nicht mit irgend so einem süßen, Medizin studierenden Mädchen aus Karlskoga zusammen. Er war zusammen mit einem Typen. Einem, der Jens hieß und der … der sich danach sehnte, seinen Schwanz in Henriks Arschloch zu schieben!
Eine Vielzahl sich widersprechender Impulse und Gedanken begannen augenblicklich, ein leicht intoxiniertes Gehirn zu bombardieren, doch als das Unwetter vorbei war, musste er fast laut lachen.
Sein großer Bruder war schwul.
Super-Henrik bumste mit Jungs.
Zumindest mit einem, der Jens hieß.
Was ihm verdammt noch mal die Oberhand verschaffte! Ja, genau dieses Gefühl hatte er. Das war der erste spontane Kommentar, der sich in seinem Kopf einfand. Er hatte die Oberhand! Es war kein schöner Gedanke, das sah er selbst ein, aber endlich – zum ersten Mal überhaupt – schien es, als ob … als ob er diesen Übermenschen von Bruder zu packen bekommen könnte. Danke, oh vielen Dank, du Schöpfer des Handys!, dachte Kristoffer Grundt. Das hier ändert die Lage, wie ich behaupten möchte! Verdammte Scheiße!
Er schrieb seine Mitteilung an Linda, schickte sie auf den Weg und löschte sie. Stellte das Gerät wieder in neutralen Betrieb und schob es zurück unter Henriks Kopfkissen.
Jens!
Er löschte die Smögenlampe auf seiner Seite des Schreibtisches, ließ Henriks aber brennen. Drehte sich zur Wand, betrachtete eine dieser schmalen hellgrünen, vertikalen Ränder aus nächster Nähe und dachte, dass diese Neuigkeit Mama Ebba und Papa Leif um zehn Jahre älter machen würde.
Und dieses Mal, dieses allererste Mal, war nicht er das Problem.
Rosemarie Wunderlich Hermansson lag mit angezogenen Beinen auf der Seite und betrachtete die roten Minuten des Radioweckers. 01.12. Karl-Erik befand sich platt auf dem Rücken liegend neben ihr und ließ die gleichen ruhigen, leicht zischenden Atemzüge hören, die sie seit vierzig Jahren vernahm. Wenn ich ein Kissen auf seinen Mund lege, dachte sie, würde er dann aufhören? Ist es so einfach?
Wahrscheinlich nicht. Auf diese Art und Weise konnte man Kinder und zarte Jungfrauen ermorden, aber keine richtigen Männer. Er würde aufwachen und versuchen, sich zu verteidigen. Außerdem war es sein Geburtstag, er würde es ihr nie verzeihen, wenn sie versuchte, ihm an seinem 65. Geburtstag das Leben zu nehmen.
Sie schob den Gedanken beiseite. 01.13. Dann also selbst sterben. Obwohl er ihr das sicher auch nicht verzeihen würde. Wenn sie sich an seinem großen Tag das Leben nahm. Daran gab es nichts zu rütteln. Einen Tag länger musste sie sich noch zusammenreißen. Ebbas und Karl-Eriks großer Tag. Das sollte die Krönung sein, aber es sah eher aus wie … wie hieß das noch … wie ein Schlupfloch? Ja, tatsächlich. Doch woher kamen all diese finsteren Gedanken? Wieso wurde sie jetzt plötzlich von diesen morbiden Phantasien geplagt? Tag für Tag, Nacht für Nacht. Lag es nur an Walters unglückseligem Fernsehauftritt, oder war Walter ein Katalysator für etwas anderes? Früher hatte sie doch nicht in dieser Richtung gedacht.
Oder Spanien? Zog Spanien sie in die Tiefen der Depression? 01.14. Oder dass sie in Pension gegangen war? Waren Ziel und Sinn ihres Lebens verloren gegangen, nur weil sie keinen Job mehr hatte, zu dem sie gehen musste? Zu diesen verfluchten Gören in der Kymlinge-Schule?
Der ganze Abend war wie eine Wanderung im Tal des Todesschattens gewesen. Und ein Balanceakt; sie war nur den Bruchteil von Sekunden davon entfernt gewesen, ganz einfach Teller und Besteck an die Wand zu werfen und loszuschreien. Und dennoch hatte niemand etwas bemerkt. Liebste Mama hier und liebste Mama da, und deine warmen Moltebeeren sind die besten auf der ganzen Welt, Mama. Als ob viel Raffinesse erforderlich war,
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