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Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)

Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)

Titel: Mensch ohne Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Håkan Nesser
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schweigend da. Die dicke, dunkelbraune Haarmähne fiel herab und verbarg sein Gesicht. Sie konnte jetzt fast die Intensität seiner Gedanken spüren. Der Entschluss wogte zwischen Herz und Kehlkopf in ihm hin und her, die Worte waren fertig, es wäre nur das Werk eines Augenblicks, ihnen Töne zu geben. Sie wunderte sich darüber, dass sie sie tatsächlich so deutlich vernehmen konnte, fragte sich, ob sie nicht nur hier saß und sich etwas einbildete, was sie so gern gehabt hätte. Auf jeden Fall kam es jetzt darauf an; wenn er ihr nicht in diesem Moment erzählte, was ihn bedrückte, würde er es auch später nicht tun. Weder morgen noch nächste Woche noch irgendwann. Ich will es wissen, dachte sie. Ich mag diesen Jungen wirklich, und ich will, dass er mir sein Herz öffnet. Ich werde dir helfen, Henrik, begreifst du das nicht? Ich bin nicht deine Mama, ich bin deine Freiheitstante. Sie überlegte, ob sie ihm die Hand auf den Arm legen sollte, ließ es aber bleiben. Das Gleichgewicht war sehr labil, zu viel Druck konnte den Entschluss in die falsche Richtung kippen lassen.
    Sie griff nach der noch halb vollen Weinflasche und füllte ihre Gläser erneut. Es verging eine halbe Minute, vielleicht eine ganze; sie hatte sich gerade dazu entschlossen, dass das alles hier nur eine blöde Situation war, in der sie sich übersensibel und weichherzig fühlte, was an zu viel Rotwein lag, als er seinen Rücken streckte, einen großen Schluck Wein trank und sie mit dieser entschlossenen Energie ansah.
    »Ich bin homosexuell, Kristina«, sagte er. »Das ist das Problem.«
     
    Als Walter bereits das Handy in der Hand hatte, kamen ihm plötzlich Zweifel.
    Eine wildfremde Frau um halb zwei Uhr nachts anzurufen, war das noch gescheit? Und wenn sie jetzt einbeinig war und hundertvierzig Kilo wog? Wenn sie eine zahnlose Heroinsüchtige war?
    Jeanette Andersson?
    Andererseits – wenn sie nun seine Rettung war? Wenn sie dalag und auf ihn wartete? Seine neue Paula. Da sie ja offensichtlich über den Hermanssonschen Hundertfünfjahrestag informiert war, wusste sie sicher auch, dass er sich zu dieser Zeit in der Stadt befand. Dass er zurückgekommen war.
    Aber dennoch. Wenn es wenigstens ein Freitag-oder Samstagabend gewesen wäre.
    Er entschied sich für einen Kompromiss. Ein Spaziergang durch die Pampa, bis zum Sportplatz und zu den Eisenbahnschienen, genauer gesagt, damit er ein wenig Distanz bekam. Wenn er es in den zehn Minuten, die es bis dorthin dauern würde, nicht bereute, konnte er sie anrufen – und wenn sie tatsächlich dranging und ihn bat zu kommen, hatte er immer noch zehn Minuten, sich anders zu entscheiden, während er zurück in die Fabriksgatan ging.
    Ein einfacher Plan, dachte Walter, zündete sich erneut eine Zigarette an und schüttelte sich. Schlau. Die Luft war feuchtkalt, er war dankbar, dass er zumindest genügend Alkohol im Blut hatte, dass er nicht frieren musste. Immerhin etwas.
    Er zog die Schultern hoch und marschierte los.
     
    Eine Flut automatischer und einander ziemlich widersprechender Gedanken fuhr ihr durch den Kopf. Sie trank von ihrem Wein und strengte sich an, keinerlei Reaktion zu zeigen. Etwas sagte ihr, dass es wichtig war, jetzt nicht falsch zu reagieren, und es ließ sie gleichzeitig wissen, dass es mindestens hundert verschiedene falsche Reaktionen gab, zwischen denen sie wählen konnte. Es verwunderte sie, dass ihr nichts spontan einfiel, was sie hätte sagen können. Dass kein Gefühl auftauchte, das sie in vollkommen reine, wahre Worte hätte kleiden können. Es war ja ganz offensichtlich, dass Henrik sich quälte. Sowohl aufgrund der Richtung seiner Sexualität als auch, weil er es zugegeben hatte; sie konnte nicht sagen, was davon schwerer wog in seinem angespannten Schweigen. Er hatte sich auf dem Sofa zurückgelehnt, die Hände im Nacken verschränkt und den Blick zur Decke gerichtet. Wollte sie ganz offensichtlich nicht ansehen. Sie durchforstete – und verwarf – eilig das gesamte Arsenal an oberschlauen politisch korrekten Äußerungen: »Das ist doch kein Grund, unglücklich zu sein.« »Alle haben einen Hang in diese Richtung.« »Deine Sexualität ist noch gar nicht fertig entwickelt.« »Ja und?« Stattdessen versuchte sie herauszubekommen, was sie wirklich dachte und fühlte; es sollte doch nicht so schrecklich schwer sein, wenn sie sich nur ein wenig anstrengte. Schließlich hatte sie es.
    »Das bist du nicht«, sagte sie.
    »Was?«, fragte er.
    »Ich habe gesagt: Das bist

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