Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
und betrachtete ihre Tochter und ihren Mann, die beide am Küchentisch saßen; sicher in sich ruhend, wie es schien, in ihren einhundertundfünf Jahren, in ihrer angeborenen, vererbten Übereinstimmung – ohne sich auch nur im Geringsten zu beunruhigen, wie es schien. Sie holte tief Luft.
»Die Polizei«, sagte sie. »Jetzt bist du so gut und rufst die Polizei an, Karl-Erik Hermansson.«
»Nie im Leben«, erwiderte Karl-Erik, ohne von der Zeitung aufzuschauen. »Und ich verbiete dir, das zu tun. Und damit basta.«
»Papa, ich glaube, du solltest in diesem Fall doch mal auf Mama hören«, sagte Ebba.
Kristoffer wachte auf und starrte an eine dunkle Wand.
Wo bin ich?, war sein erster Gedanke.
Es vergingen einige Sekunden, bevor er es begriff. Ein sonderbarer Traum über Hyänen zog sich schnell zurück und verschwand in seinem Unterbewusstsein. Hyänen, die höhnisch lachten und in etwas herumsprangen, das aussah wie ein alter Steinbruch. Warum träumte er von Hyänen, er hatte doch noch nie eine gesehen, oder? Zumindest nicht lebendig.
Und so schrecklich viele Steinbrüche auch nicht.
Er schaute auf seine selbstleuchtende Armbanduhr. Es war Viertel vor acht. Er drehte sich um und knipste das Licht an. Die grüngestreiften Tapeten kehrten zurück. Henrik war bereits aufgestanden. Verflucht noch mal!, dachte Kristoffer. Ich muss gestern Abend wie ein Stein geschlafen haben. Habe nicht einmal bemerkt, ob er weggegangen ist oder nicht.
Nun gut, dachte er anschließend und knipste das Licht wieder aus. Ich werde ihn wohl einfach fragen, wie es gelaufen ist. Ich bleibe noch ein bisschen liegen, vielleicht ist er ja nur auf der Toilette und kommt gleich wieder.
Oder war Ebba bereits bei ihnen gewesen und hatte sie geweckt? Er versuchte sich zu erinnern, wie die Lage war, aber es erschien ihm sinnlos. Sie hatte ihn so oft geweckt, an so vielen Tagen frühmorgens in so vielen verschiedenen Tonlagen, dass es unmöglich war, den einen Fall vom anderen zu unterscheiden. Vielleicht war sie im Zimmer gewesen, vielleicht auch nicht.
Heute war jedenfalls Mittwoch, wie er sich erinnerte. Heute Abend würde er wieder daheim in Sundsvall sein. Und morgen würde …
Linda Granberg. Birgers Kiosk. Kristoffer drehte sich wieder um und knipste die Lampe erneut an. Sinnlos, noch liegen zu bleiben, er war hellwach wie ein Frühlingsfohlen. Außerdem etwas hungrig, das war sonst morgens nicht so. Also konnte er genauso gut aufstehen, wie er beschloss. Duschen und hinuntergehen, um zu frühstücken.
Während er in der engen, altmodischen Duschkabine stand und das Wasser kühler werden ließ, dachte er über Henrik nach. Welche Veränderung! Welcher absolute Umschwung innerhalb nur weniger Tage. Von dem perfekten, unfehlbaren Super-Henrik zu dem … wie nannte man das? Promiskuös? … zu dem promiskuösen Henrik, der es mit einem Jungen trieb, der Jens hieß, und der mitten in der Nacht abhaute, zu einem heimlichen, lichtscheuen Treffen!
Wenn er nun tatsächlich letzte Nacht losgekommen war. Das war natürlich nicht sicher. Aber in gewisser Weise hatte er trotz allem das Gefühl, seinem Bruder näher gekommen zu sein. Auch wenn Henrik noch nicht wusste, dass er wusste. Denn Henrik war nicht fehlerfrei, das war das Neue. Er hatte seine dunklen Seiten, genau wie jeder andere auch. Wie Kristoffer selbst. Er war … ja, menschlich, ganz einfach.
Erfreulich, dachte Kristoffer. Außerordentlich erfreulich.
Dann erhöhte er die Wassertemperatur um ein Grad und ging dazu über, über seinen Onkel Walter nachzudenken. Da war die Promiskuität (schwieriges Wort, dachte Kristoffer, aber gut) schon seit langem dokumentiert. Er war schon lange, bevor er alle Rekorde auf Fucking Island schlug, das schwarze Schaf der Familie gewesen. Er hatte immer zu den Themen gehört, über die man am Mittagstisch im Stockrosvägen in Sundsvall nicht so gerne sprach.
Und jetzt war er verschwunden. Oder war er letzte Nacht zurückgekommen? Kristoffer ertappte sich selbst bei dem Wunsch, dass dem nicht so wäre. Es war cool, sich auf diese Art und Weise einfach in Luft aufzulösen. Die anderen Familienmitglieder machten sich Sorgen, besonders Großmutter, aber nicht Kristoffer. Wahrscheinlich war es genauso, wie Papa Leif gesagt hatte. Walter hatte eine Frau gefunden, und er hatte sich entschieden, lieber die Zeit mit ihr zu verbringen, als eine besonders langweilige Geburtstagsfeier durchstehen zu müssen. Ihm war es vollkommen gleichgültig, was die
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