Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
gesagt, er oder sie habe ihn auf der Treppe getroffen, ihn im Badezimmer gehört, mit ihm gesprochen – aber nachdem alle Informationen unter Ebbas kompetenter Leitung methodisch zusammengetragen und verglichen worden waren, stellte sich heraus, dass sämtliche Vermutungen falsch waren.
Niemand hatte Henrik den ganzen Morgen über gesehen, das war der Stand der Dinge.
Schon ziemlich bald war in Kristoffers Kopf eine Ahnung gekeimt, und er hatte reichlich Zeit, sich zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen sollte. Was nicht besonders schwer war.
»Nein, Mama, ich habe ihn auch nicht gesehen. Er war schon aufgestanden, als ich aufgewacht bin.«
Und dabei hatte er nicht einmal lügen müssen. Henrik war schon aufgestanden gewesen, als er aufwachte. Kristoffer hatte ihn den ganzen Morgen über nicht gesehen.
Dass er ein kleines Stückchen Information zurückhielt, nach dem ihn niemand ausdrücklich gefragt hatte, nein, das konnte man ihm nun wirklich nicht anlasten. Zumindest bis jetzt nicht.
Aber in zehn, fünfzehn Minuten würden sich die Positionen wahrscheinlich verschoben haben. Die Lage würde prekärer werden. Mama Ebba würde zu ihm heraufkommen und ein etwas eingehenderes Verhör veranstalten. Und diese Prüfung war es, auf die er sich jetzt vorbereitete.
Weißt du etwas, das darauf hinweisen kann, wohin Henrik gegangen ist?, würde sie beispielsweise wissen wollen, und dann wäre er gezwungen, offen zu lügen. Eine Grenze zu überschreiten. Genau die Grenze, die am Sonntag Gesprächsthema gewesen war, als er auf der Büßerbank gesessen hatte.
Obwohl ihm das eigentlich keine Sorgen machte. Auf jeden Fall nicht besonders viele, das stellte er fest, als er versuchte, die Lage etwas genauer zu betrachten. Henrik zu schützen – den neuen promiskuösen Henrik – war eine Selbstverständlichkeit. Das war der Deal, den sie miteinander eingegangen waren. Dieses Mal war es Henrik, der in der Patsche saß, nicht Kristoffer, und es war schwer, nicht eine gewisse Befriedigung aufgrund dieser einfachen, aber ungewohnten Tatsache zu empfinden. Und Henrik würde natürlich alles abkriegen, wenn er wieder auftauchte. Es würde nie herauskommen, dass sein kleiner Bruder mit Informationen hinterm Berg gehalten hatte. Kristoffer würde ungeschoren davonkommen. Er riskierte überhaupt nichts, wenn er seine Mutter anlog. Ganz im Gegenteil, es war seine Pflicht, die Abmachung einzuhalten, die er und Henrik eingegangen waren.
Brothers in Arms.
Aber es war natürlich etwas ungeschickt, das musste er schon zugeben. Und verwunderlich. Henrik war offensichtlich irgendwann in der Nacht zu seinem heimlichen Date aufgebrochen, und dann … ja, was genau er dann vorgehabt hatte, darüber wollte Kristoffer lieber nicht weiter spekulieren … aber später, als all das Unaussprechliche fertig und überstanden war, da hatten er und der andere, wer immer es auch sein mochte, sich vermutlich hingelegt, um eine Runde zu pennen – und verschlafen! Was für eine bodenlose Tollpatschigkeit, dachte Kristoffer. Und was für eine Geschichte würde er wohl auftischen, wenn er zurückkam?
Sein Handy hatte er offensichtlich ausgeschaltet. Man hatte in der letzten Stunde fünf oder zehn Mal versucht, ihn anzurufen, aber nur die Mailbox erreicht. Das sah Henrik überhaupt nicht ähnlich, sein Handy abzustellen. Kristoffer hatte nicht so ganz herausgefunden, was die Erwachsenen eigentlich glaubten. Sein Vater hatte die Idee verworfen, Henrik könnte auf Skitour gegangen sein, eine Theorie, die zunächst in eine Joggingrunde umgewandelt worden war, nachdem es im ganzen Haus keine passende Skiausrüstung gab – um dann aufgrund der Schneelage vollkommen verworfen zu werden.
Bis jetzt war noch niemand wirklich beunruhigt, aber vielleicht brodelte die Sorge ja unter der Oberfläche. Kristoffer spürte, dass er im Augenblick die Lage nicht so recht beurteilen konnte. Aber dass sie ihn ins HZdW geschickt hatten, bedeutete natürlich, dass man das Ganze als ernst betrachtete. Außerdem war es etwas merkwürdig, dass jetzt zwei Personen vermisst wurden, nicht mehr nur eine. Auch wenn Kristoffer nicht gehört hatte, dass die Erwachsenen über eine mögliche Verbindung gesprochen hätten. Was jedoch noch kommen konnte, sie wussten ja nicht, was er wusste.
Dieser verfluchte Tollpatsch von einem Bruder, murmelte Kristoffer vor sich hin und begriff gleichzeitig, dass es das Herablassendste sein musste, was er je über Henrik gedacht hatte. Dass er hier
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