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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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gewesen war. Sie waren gut drei Meter breit, und jede Stufe war mehr als einen halben Meter hoch. Wasser und Wind hatten sie abgeschliffen, was der Grund dafür war, dass man nicht sofort erkannte, was sie waren.
    Aber es war eine Treppe. Eine Treppe, die in die Tiefe führte. Vor vielen hundert Jahren hatte sie mit Sicherheit vollständig unter Wasser gelegen, aber die Landhebung hatte sie ans Licht gebracht. Vielleicht hatte es sie sogar schon gegeben, bevor das Land vom Eis herabgepresst worden war. Anders hatte die Arme um sich geschlungen und blickte die Treppenstufen hinunter.
    Wer geht dort?
    Er musste die Hände zur Hilfe nehmen, um eine Stufe hinabzusteigen. Diese Treppe war nicht für Menschen gebaut, mit Sicherheit auch nicht von Menschen. Welche Menschen in grauer Vorzeit sollten in der Lage gewesen sein, Steinmetzarbeiten unter Wasser durchzuführen?
    Er stieg noch eine Stufe herab, die eventuell nicht ganz so hoch war wie die vorherige.
    Wer?
    Jemand oder etwas, das jenseits unseres Vorstellungsvermögens lag. Einst, vor langer Zeit, hatte es diesen Weg benutzt, um hinauf- und hinabzusteigen, dann jedoch damit aufgehört, weil es zu alt oder zu schwach geworden war. Oder zu groß. Jetzt gab es nur noch den Weg.
    Die nächste Stufe. Und die nächste.
    Anders stand am Fuße dessen, was von der Treppe zu sehen war, auf dem Eis. Die weißen Vögel wimmelten an den Rändern seines Blickfelds am Himmel. Er steckte die Hand in die Hosentasche und holte die Schachtel heraus. Anschließend setzte er sich auf die nächsthöhere Stufe und ließ die Füße einige Zentimeter über der Eisdecke baumeln.
    Er schob die Schachtel auf, kippte Spiritus in seine Hand und schloss die Finger zu einer behutsamen Faust. Das Wissen des Wassers durchströmte ihn, begleitet von einer neuen Erkenntnis. Er öffnete erneut die Hand, betrachtete den nunmehr mittelfingerdicken, schwarzen Wurm, der sich in seiner Handfläche ringelte.
    Du gehörst hierher.
    Es juckte an seiner Wunde am Hals, und Anders kratzte sich vorsichtig, während er auf den halb durchsichtigen Boden des Eises starrte. Spiritus kitzelte seine Handfläche, als er sich schläfrig um sich selbst drehte.
    Du kommst hierher.
    Das Insekt war ein Teil dessen, was sich unter dem Eis, am Fuß der Treppe befand. Warum sollte es sonst ausgerechnet auf Domarö aufgetaucht sein, einer gottvergessenen, im wahrsten Sinne des Wortes gottvergessenen Insel in den Schären nördlich von Stockholm? Weil es von hier stammte, natürlich.
    Er hob die Handfläche zu den Augen und studierte die glänzende, schwarze Haut, die angedeutete Unterteilung des Körpers, der wie ein einziger dunkler, kleiner Muskel war. Er hauchte ihn an.
    »Gehörst du mir?«, fragte er flüsternd, ohne eine Antwort zu bekommen. Er hielt den Mund an das Insekt und atmete warme Luft darauf. »Gehörst du mir?«
    Er ließ einen dicken Speichelstrang fallen, und das Insekt rollte sich herum, wälzte sich wie eine zufriedene Katze in der zähen Flüssigkeit, bis seine Haut glänzte.
    Ich weiß nichts.
    Trotzdem rutschte er von der Treppenstufe herunter, sodass er wieder auf dem Eis stand. Er ging in die Hocke, berührte es mit den Fingerspitzen und bat es zu schmelzen. Auf der Oberfläche bildete sich eine Wasserschicht, und unmittelbar darauf sank er zehn Zentimeter und stand auf Stein.
    Wasser lief ihm in die Stiefel und kühlte seine Füße aus. Ein Halbkreis aus offenem Meer erstreckte sich gut zwei Meter weit. Durch das klare Wasser konnte er schemenhaft drei weitere Treppenstufen erkennen, die in der Dunkelheit verschwanden.
    Das Eis war am Rand gut einen Meter dick, und Anders’ Herz schlug schneller. Die Kraft, die erforderlich gewesen sein musste, um eine Eisschicht von dieser Stärke auf ein ganzes Meer zu legen. Sein Brustkorb wurde zusammengepresst, als umklammerten ihn starke Hände, und er bekam kaum Luft. Er blickte gen Himmel.
    Die Vögel waren außer sich. Jeder einzelne von ihnen schien danach zu streben, den Raum direkt über seinem Kopf zu erreichen, und in dem flatternden und schreienden Deckel aus Federn und Fleisch, der über ihm schwebte, ließen sich kaum noch einzelne Körper unterscheiden.
    Er schloss die Augen und strich mit den Fingern über den Puschel an Tinos Mütze, den Puschel, an dem Maja immer im Liegen gelutscht hatte, wenn sie ihre Kassetten hörte. Das tiefe Meer lag unter seinen Füßen, die Vögel kreischten und schrien über seinem Kopf. Er stand vor etwas, dessen

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