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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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nahm ein paar große Schlucke. Sein Mund schmeckte nach Pestilenz, und die Benebelung stieg ihm augenblicklich zu Kopf und ließ ihn wanken.
    Mit dem Rücken zur Spüle glitt er kichernd zu Boden. Als sein Steiß mit einem harten Plumps auf den Linoleumboden schlug, wurde aus seinem Kichern ein keuchendes Lachen. Er schlug mit der flachen Hand auf den Boden, konnte aber nicht aufhören zu lachen, musste es einfach loswerden und sang deshalb laut: »Donnerhonig, Großmutters Donnerhonig frisst er, wenn er sich prügeln will!«
    Immer noch kichernd wankte er ins Schlafzimmer und fand die Tino-Tatz-Puppe. Er knüllte sie unter die verknoteten Schneeanzugärmel, sodass der Kopf von Tino Tatz über seiner Hüfte herauslugte und die kurzen Beine an seinem linken Oberschenkel baumelten. Er tätschelte Tinos Mütze, »Wohl dem, der einen solchen Freund hat«, und bewegte sich auf Wände und Möbel gestützt durchs Haus und auf die Eingangstreppe hinaus.
    Sein Kopf wurde etwas klarer, als er in die kalte Luft trat. Er rieb sich mit den Fingerknöcheln fest die Augen, hörte auf zu kichern und blinzelte ins Sonnenlicht. Es war ein schöner, stiller Tag, ein gesegneter Herbsttag, ganz ähnlich jenem Wintertag vor zwei Jahren, der ihn zu diesem Punkt geführt hatte.
    Die Beine trugen ihn festen Schritts zum Bootssteg. Er nahm die Natur ringsum überdeutlich wahr und spürte das Wasser in, unter und vor sich. Er war ein übersensibles Bewusstsein, getragen von einem zerbrechlichen Körper, ein unendlich komplizierter, organischer Computer in einer Schale aus rostigem Stahl.
    Und der stärkste Bär der Welt!
    Er machte die Leinen los und sprang ins Boot, setzte sich auf die Fahrerducht, hob den Benzinkanister an und schüttelte ihn. Es plätscherte beunruhigend. Er schaute nach Gåvasten hinaus.
    Ich will ja nur hin, nicht wahr? Ich werde bestimmt nicht wieder heimfahren.
    Er betrachtete die Luftblase, die den Benzinstand anzeigte. Sie sank zu Boden, als er den Kanister abstellte, und gleichzeitig sank etwas in seinem Inneren. Die fatalistische Ruhe, die in ihm keimte, seit er sich angezogen hatte, verdorrte angesichts dieser praktischen Tatsache: Er brauchte keinen Treibstoff nachfüllen, weil er nicht heimkehren würde.
    Langsam, ganz langsam, trieb das Boot südlich ab, während er, die Arme auf die Knie gelegt, nach Gåvasten hinüberstarrte. Dann nickte er kurz, pumpte Benzin hoch, betätigte den Choke und riss am Seilzug.
    Solang der Kahn noch fährt …
    Der Motor sprang an, und er verbannte alle Zweifel aus seinem Bewusstsein, legte den Gang ein und drehte den Griff auf Vollgas. Gåvasten glitt auf dem Meer sachte auf ihn zu, und er dachte an nichts, hielt den Blick nur starr auf den Leuchtturm gerichtet und sah die Entfernung schrumpfen. Als er etwa die halbe Strecke zurückgelegt hatte, bemerkte er, dass die Vögel immer noch dort draußen waren. Zu Hunderten oder Tausenden umschwärmten die kleinen Punkte die leuchtend weißen Wände des Leuchtturms wie Nachtfalter eine helle Lampe.
    Es waren nur noch wenige Hundert Meter, als der Motor zu stottern begann. Ihm ging das Benzin aus, aber seltsamerweise schien das Boot darüber hinaus auch langsamer zu werden. Als er weitere hundert Meter gefahren war, hörte man ein Knirschen.
    Erschrocken suchte Anders die Bootsseiten ab, weil es klang, als würde das alte Plastik splittern. Es war nichts zu sehen, aber das Knirschen wurde immer lauter, und das Boot begann zu vibrieren.
    Was ist das für eine Teufelei …
    Der Motor stotterte erneut, und als er wieder lief, war es, als müsste er gegen den Wind ankämpfen. Er lief auf Hochtouren, aber das Boot kam kaum vom Fleck. Die Vibrationen wurden zu Stößen und Schlägen, und der Motor stotterte erneut.
    »Komm schon! Komm schon!«
    Anders wandte sich um und versetzte dem Motor einen Schlag, als wollte er ihn davon abhalten einzuschlafen. Als seine Hand vom Plastik hochfederte, bot sich ihm ein Anblick, der ihn erkennen ließ, dass seine Bemühungen sinnlos waren. Er hätte den Motor mit der Peitsche bis aufs Blut anfeuern können und wäre trotzdem keinen Meter weiter gekommen.
    Die gesamte Förde war zugefroren. Er war in allen Richtungen von Eis umzingelt. Der Motor stotterte ein letztes Mal und ging aus.
    Kein Wellenplätschern, kein Wind, kein Motorenlärm. Das einzige Geräusch waren die Schreie der Möwen, als sie wie weiß gekleidete Sucher um die Gebetsmühle des Leuchtturms flogen. Anders legte den Kopf schief und

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