Menschenhafen
warum?«
»Weil …«
Warum? Warum? Weil ich feige bin, weil ich Angst habe, weil ich mutig bin, weil Anders …
»Weil ich dachte, er könnte ihn gebrauchen.«
Anna-Gretas Augen waren starr auf ihn gerichtet. »Und wozu?«
»Zu dem … was er tun muss.«
Wie Simon befürchtet hatte, verschlug es Anna-Greta die Sprache. Ihre Hände fielen auf den Schoß herab, und sie betrachtete mit offenem Mund die Inseln, die in einem langsamen Film vorbeigekurbelt zu werden schienen. Simon griff nach seiner Gabel und steckte sich einen Bissen Rührei in den Mund. Es schmeckte grauenvoll. Er legte die Gabel weg, während das Schiff gleichzeitig krängte, was das Rührei wie eine Amöbe in die Tellermitte rutschen ließ.
Anna-Greta sah ihn an. Simons Augen flackerten. Das Schiff krängte nochmals, diesmal kräftiger, und als er mit einer Kraftanstrengung Anna-Greta trotzdem in die Augen sah, fand er dort etwas anderes. Sie sahen sich in die Augen. Die Motoren drehten auf, und um sie herum hörte man Klirren und Scheppern, als Gläser und Besteck zitterten und gegeneinanderschlugen. Ein schwacher Schlag lief durch die ganze Fähre, und Simon wurde zehn Zentimeter nach vorn gestoßen, sah Anna-Greta jedoch weiterhin unverwandt an.
Die Motoren dröhnten, und alles bebte. Laute Stimmen an den Tischen ringsum versuchten sich über den Lärm und das Rasseln hinweg verständlich zu machen. Es folgte ein kräftigerer Stoß, und Simons Bauch schlug gegen den Tisch, während Anna-Greta beinahe hinterrücks vom Stuhl gekippt wäre, aber es gelang ihr, den Sturz zu verhindern, indem sie sich am Fensterbrett festhielt. Die Fähre war zum Stehen gekommen.
Ihr Blickkontakt wurde während der letzten Konvulsion des Schiffs unterbrochen, und nun sahen beide aus dem Fenster. Simon glaubte in weiter Ferne, am Rande seines Blickfelds, Ledinge und Gåvasten ausmachen zu können, die in einem Meer lagen, das zugefroren war. Das Schiff lag eingebettet in eine dicke Eisschicht, und Simon erkannte, was geschah.
Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?
Menschen hatten sich von ihren Tischen erhoben und führten lautstarke Gespräche, während sie zu den Fenstern liefen, um nachzusehen, was los war. Ein Mann und eine Frau zwängten sich neben ihnen ans Fenster und versperrten ihnen die Sicht, während sie mit ungläubigen Stimmen sagten: »Aber das ist doch völlig unmöglich … das kann doch gar nicht sein … wie kann denn so etwas passieren, hier war doch gerade noch offenes Wasser …«
Anna-Gretas Blick holte ihn zurück. Sie nickte langsam und sagte: »Dann ist es jetzt so. Was geschehen wird, wird geschehen.«
Sie streckte ihre Hand aus und legte sie mit dem Handteller nach oben zwischen ihnen auf den Tisch. Simon griff danach und drückte sie.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich konnte nicht anders.«
»Nein, das hab ich schon verstanden«, erwiderte Anna-Greta. Sie ließ seine Hand los, sodass sie offen auf dem Tisch lag, und betrachtete sie. Mit dem Zeigefinger folgte sie den Linien in der Handfläche. »Das habe ich begriffen. Mein Gatte.«
Eine bessere Welt
Das Gekreische und die Schreie der Möwen waren zur Normalität geworden, als Anders zum dritten Mal in seinem Leben den Fuß auf die Felsen von Gåvasten setzte. Er hörte sie kaum noch, sie waren nur ein Klangteppich, der jetzt, da er sich nicht mehr vor ihnen fürchtete, zu diesem Ort gehörte.
Er trat von einem eisbedeckten Meer auf eine Schäreninsel, auf der es weiterhin Herbst war. Hier lag kein Schnee, einzelne Sträucher trugen noch Blätter, und die Grassoden in den Felsspalten waren grün.
Sein Weg führte ihn an die Ostseite der Insel. Er hatte sie bei seinem letzten Besuch gesehen, und schemenhaft war sie im Hintergrund auf den Fotografien aufgetaucht, doch erst jetzt hatte er sie wirklich gesehen, bisher war er nicht fähig gewesen, die Sache wirklich zu denken.
Als er auf den Felsen im Osten stand, fand er es unglaublich, dass er so blind gewesen war. Maja hatte es ihm mit der Stiftplatte zu zeigen versucht, mit den Strichen im Tino-Tatz- Comic, und es war die ganze Zeit direkt vor seinen Augen gewesen: Die flachen Felsen auf der östlichen Seite der Insel senkten sich in einer durchbrochenen Treppenstufenformation ins Meer.
Aber es war eben keine Treppenstufenformation. Es war eine Treppe .
Von seinem Standort aus sah man deutlich die vier obersten Stufen, die im Eis verschwanden. Er kannte sie aus dem Traum oder der Vision, in der er Maja
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