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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Renz-Polster
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viel besungenen Sternlein am Himmel eingeschlafen wären, wären in dieser Welt tote Babys gewesen! Sie wären von Hyänen verschleppt, von Nagetieren angeknabbert oder bei einem nächtlichen Temperatursturz unterkühlt worden. Auch dass kleine Kinder viel getragen wurden, dass sie häufig, nach Bedarf und lange gestillt wurden, dass ihr Schreien rasch erhört wurde – all das war Teil des ganz normalen, für jeden kleinen Homo sapiens zu erwartenden Lebensprogramms.
    Können Kinder wirklich »verwöhnt« werden, indem sie das bekommen, was ihnen bis in die jüngste Vergangenheit überhaupt erst das Überleben ermöglichte?
    Andere Zeiten – andere Kinder?
    Aber ist der Vergleich mit der Vergangenheit eigentlich zulässig? Die Umwelt ist heute garantiert tigerfrei, die Zentralheizung funktioniert, die Eltern sorgen auf moderne Art für Schutz und Geborgenheit der Kleinen.
    Wenn da nicht die Instinkte der Kinder wären. Mit denen leben unsere Kinder noch immer in der »alten« Welt, in der ihr einziger Schutz aus der Nähe vertrauter, starker Erwachsener bestand. Dass die Eltern die Webcam über dem Bettchen laufen haben, das spürt ein Baby nicht. Woher soll es denn wissen, dass die Tür sicher verschlossen ist und es Bären nur noch im Zoo gibt? Sicherheit kann es zunächst nur körperlich erfahren, durch Berührungen, Gerüche, durch sinnliche Erfahrungen also. Sein von der Evolution gestricktes Gefühlskleid hat sich durch die Erfindung des Babyphones ja nicht geändert – die dreifach verglasten Fenster, die die Kälte abhalten und vor Raubtieren schützen, sind sozusagen noch nicht in seiner Seele angekommen.
    Wer zweifelt, mag sich an einen Campingurlaub erinnern. Da raschelt es dort draußen, da streicht vielleicht ein Igel durchs Gebüsch – wirklich ein Igel? In der Ferne hört man Laute, die man sonst nie hört, und wenn es zu tröpfeln beginnt, droht gewiss ein Sturm. Selbst uns Erwachsene treibt es da näher zueinander (dabei wissen wir ja tatsächlich, dass die Geräusche dort draußen von keinem Säbelzahntiger stammen!). In der sichersten aller Welten bekommen wir Großen es mit der Angst zu tun.
    Würden wir unseren Säugling da in ein eigenes Zelt legen? Undenkbar! Undenkbar selbst in lauen Nächten, in denen ein Baby nicht gleich erfrieren würde, wenn es sich aus seinem Schlafsack strampelt. Undenkbar erst recht in einer Umwelt, in der draußen ein Wildbach rauscht, Raubtiere nach Beute suchen und in der die Temperatur eben nicht auf die empfohlenen 16 bis 18 Grad einzustellen war.
    Aber genau das ist die Welt, in der die Instinkte unserer Babys noch heute wurzeln. Mit ihren Ängsten und Erwartungen leben
auch die modernen Kleinen zunächst einmal dort draußen. Bis sie ihre eigenen Sicherheiten gebildet haben (ein Prozess, der erst jenseits der Säuglingszeit überhaupt beginnen kann), sind sie im Grunde Steinzeitbabys. Und die brauchen mehr als ein bisschen Ruckeln am Kinderwagen und ab und zu den Schnuller rein …
    Nähe heute – wozu?
    Dass das auch heute noch gilt, zeigt die Wissenschaft. Nach ihren Befunden hilft früher Hautkontakt den Babys bei der Anpassung ihres Stoffwechsels nach der Geburt. Eine Unterzuckerung etwa kommt am Körper der Mutter weitaus seltener vor. Atmung, Kreislauf und Körpertemperatur sind bei Körperkontakt stabiler, und auch das Stillen klappt Haut an Haut besser. Von Frühgeborenen ist bekannt, dass sie bei »Känguru-Pflege« (bei der das Baby statt im Inkubator zeitweise am Körper der Mutter liegt) schneller wachsen und ein stärkeres Immunsystem entwickeln.
    Die Nähe scheint aber nicht nur dem Körper gutzutun, sondern auch der Seele. Babys, die regelmäßig am Körper getragen werden, sind ausgeglichener und weinen insgesamt weniger. Zugleich hilft ihnen die Nähe bei der Entwicklung von Urvertrauen – auch Bindungssicherheit genannt. Entwicklungspsychologen führen das darauf zurück, dass in körperlicher Nähe mehr »Kanäle« für die Kommunikation benutzt werden (dazu gleich mehr). Von der Nähe profitiert ebenso die Mutter: Mütter, die ihre Neugeborenen häufig bei sich haben, leiden seltener an Wochenbett-Depressionen. (Hier sei kurz daran erinnert, dass zu den wissenschaftlichen Aussagen jeweils Quellenangaben im Anhang zu finden sind.)
    Körperliche Nähe ist also auch heute noch »eingeplant«. Und sie stärkt nicht nur das Baby, sie stärkt auch die Mutter – ein Hinweis darauf, dass das Leben mit einem Säugling kein Tauziehen ist, wie es

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